Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz der finanziellen Interessen der Union. Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Unionsrecht. Verfolgung. Verjährungsfrist. Unterbrechung. Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung. Begriff. Kontrollbericht, in dem das Vorliegen einer Unregelmäßigkeit festgestellt wird
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95
Beteiligte
Instituto de Financiamento da Agricultura e Pescas IP (IFAP) |
Tenor
Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften ist dahin auszulegen, dass ein Bericht über eine Vor-Ort-Kontrolle, in dem lediglich das Vorliegen einer Unregelmäßigkeit festgestellt wird und kein Hinweis auf die Absicht enthalten ist, Ermittlungs- oder Verfolgungshandlungen vorzunehmen, gleichwohl als eine „Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung” im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, die die Verjährungsfrist für die Verfolgung gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 unterbricht, sofern der Bericht die Vorgänge, auf die sich der Verdacht von Unregelmäßigkeiten bezieht, hinreichend genau umschreibt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Oberstes Verwaltungsgericht, Portugal) mit Entscheidung vom 4. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 30. November 2021, in dem Verfahren
OF
gegen
Instituto de Financiamento da Agricultura e Pescas IP (IFAP)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Richters J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) und von Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 1122/2009 der Kommission vom 30. November 2009 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 73/2009 des Rates hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen, der Modulation und des integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystems im Rahmen der Stützungsregelungen für Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe gemäß der genannten Verordnung und mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 1234/2007 hinsichtlich der Einhaltung anderweitiger Verpflichtungen im Rahmen der Stützungsregelung für den Weinsektor (ABl. 2009, L 316, S. 65).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OF, der Landwirtschaft betreibt, und dem Instituto de Financiamento da Agricultura e Pescas IP (IFAP) (Institut für die Finanzierung der Landwirtschaft und der Fischerei, Portugal) wegen der Rückforderung einer OF gewährten Schaf- und Ziegenprämie.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 2988/95
Rz. 3
Im dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2988/95 heißt es:
„… Es ist … wichtig, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu bekämpfen.”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung lautet:
„Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.”
Rz. 5
Art. 3 Abs. 1 in Titel I („Grundsätze”) der Verordnung sieht vor:
„Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit nach Artikel 1 Absatz 1. Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.
Bei andauernden oder wiederholten Unregelmäßigkeiten beginnt die Verjährungsfrist an dem Tag, an dem die Unregelmäßigkeit beendet wird. Bei den mehrjährigen Programmen läuft die Verjährungsfrist auf jeden Fall bis zum endgültigen Abschluss des Programms.
Die Verfolgungsverjährung wird durch jede der betreffenden Person zur Kenntnis gebrachte Ermittlungs- oder Verfolgungshandlung der zuständigen Behörde unterbrochen. Nach jeder eine Unterbrechung bewirkenden Handlung beginnt die Verjährungsfrist von neuem.
Die Verjährung tritt jedoch spätestens zu dem Zeitpunkt ein, zu dem eine Frist, die doppelt so lang ist wie die Verjährungsfrist, abläuft, ohne dass die zuständige Behörde eine Sanktion verhängt hat; ausgenommen sind die Fälle, in denen das Verwaltungsverfahren gemäß Artikel 6 Absatz 1 ausgesetzt worden ist.”
Verordnung Nr. 1122/2009
Rz. 6
Art. 54 („Kontrollbericht”) der Verordnung Nr. 1122/2009 sieht in Abs. 1 vor:
„Über jede Vor-Ort-Kontrolle im Rahmen dies...