Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtlinien 91/439/EWG und 2006/126/EG. Gegenseitige Anerkennung der Führerscheine. Weigerung eines Mitgliedstaats, die Gültigkeit eines Führerscheins anzuerkennen, der einer Person, die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats nicht über die körperlichen und geistigen Voraussetzungen für das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs verfügt, von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt worden ist
Beteiligte
Tenor
1. Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein sowie Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats entgegenstehen, die es diesem erlaubt, in seinem Hoheitsgebiet die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins zu verweigern, wenn der Aufnahmemitgliedstaat auf den Inhaber dieses Führerscheins zwar keine Maßnahme im Sinne von Art. 8 Abs. 4 der Richtlinie 91/439 oder Art. 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126 angewendet hat, aber ihm in seinem Hoheitsgebiet die erstmalige Ausstellung eines Führerscheins mit der Begründung verweigert hat, dass er nach der in diesem Staat geltenden Regelung die körperlichen und geistigen Anforderungen an das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs nicht erfülle.
2. Die genannten Vorschriften sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats nicht entgegenstehen, die es diesem erlaubt, die Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins in seinem Hoheitsgebiet zu verweigern, wenn aufgrund unbestreitbarer, vom Ausstellermitgliedstaat herrührender Informationen feststeht, dass der Inhaber des Führerscheins zum Zeitpunkt seiner Ausstellung nicht die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 91/439 und in Art. 7 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/126 vorgesehene Voraussetzung eines ordentlichen Wohnsitzes erfüllte. Insoweit ist der Umstand, dass diese Informationen den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats vom Ausstellermitgliedstaat nicht direkt, sondern nur indirekt in Form einer Mitteilung Dritter übermittelt werden, als solcher nicht geeignet, die Einstufung dieser Informationen als vom Ausstellermitgliedstaat herrührend auszuschließen, sofern sie von einer Behörde dieses Mitgliedstaats stammen.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob Informationen, die unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens erlangt wurden, als vom Ausstellermitgliedstaat herrührende Informationen eingestuft werden können, und gegebenenfalls die genannten Informationen zu bewerten und unter Berücksichtigung aller Umstände des bei ihm anhängigen Verfahrens zu beurteilen, ob es sich bei ihnen um unbestreitbare Informationen handelt, die belegen, dass der Inhaber des Führerscheins, als dieser ihm im letztgenannten Staat ausgestellt wurde, dort nicht seinen ordentlichen Wohnsitz hatte.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Gießen (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. September 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2010, in dem Strafverfahren gegen
Baris Akyüz
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas (Berichterstatter), A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Oktober 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Akyüz, vertreten durch Rechtsanwalt J. Häller,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Varone, avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und N. Yerrell als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl. L 237, S. 1) sowie von Art. 2 Abs. 1 und Art. 11 Abs. 4 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über den Führerschein (ABl. L 403, S. 18).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Akyüz, einen deutschen Staatsangehörigen, dem zur Last gelegt wird, am 5. Dezember 2008 und am 1. März 2009 im deutschen Hoheitsgebiet Kraftfahrzeuge geführt zu haben, ohne im Besitz der dafür erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Richtlinie 91/439
Rz. 3
Der erste ...