Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Einwanderungspolitik. Recht auf Familienzusammenführung. Begriff ‚minderjähriges Kind’. Begriff ‚tatsächliche familiäre Bindungen’. Kind, das die Familienzusammenführung mit seinem als Flüchtling anerkannten Vater beantragt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigeneigenschaft

 

Normenkette

Richtlinie 2003/86/EG – Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c, Art. 16 Abs. 1 Buchst. b

 

Beteiligte

Bundesrepublik Deutschland

Bundesrepublik Deutschland

XC

 

Tenor

1. Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass der maßgebende Zeitpunkt für die Feststellung, ob das Kind eines als Flüchtling anerkannten Zusammenführenden ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn es vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, der Zeitpunkt ist, zu dem der zusammenführende Elternteil seinen Asylantrag im Hinblick auf die Anerkennung als Flüchtling gestellt hat, sofern der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling gestellt wurde.

2. Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass für die Annahme, dass bei der Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes und eines als Flüchtling anerkannten Elternteils tatsächliche familiäre Bindungen im Sinne dieser Bestimmung bestehen, wenn das Kind vor der Anerkennung des zusammenführenden Elternteils als Flüchtling und vor Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist, das bloße rechtliche Eltern-Kind-Verhältnis nicht genügt. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass der zusammenführende Elternteil und das betreffende Kind im selben Haushalt zusammenleben oder unter einem Dach wohnen, damit dieses Kind Anspruch auf Familienzusammenführung haben kann. Gelegentliche Besuche, sofern sie möglich sind, und regelmäßige Kontakte jedweder Art können für die Annahme, dass diese Personen persönliche und emotionale Beziehungen wieder aufbauen, und als Beleg für das Bestehen tatsächlicher familiärer Bindungen ausreichen. Darüber hinaus kann auch nicht verlangt werden, dass sich der zusammenführende Elternteil und sein Kind gegenseitig finanziell unterstützen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Beschluss vom 23. April 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Juni 2020, in dem Verfahren

Bundesrepublik Deutschland

gegen

XC,

Beigeladener:

Landkreis Cloppenburg,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer, der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, Avvocato dello Stato,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und D. Schaffrin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2021

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Art. 16 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der syrischen Staatsangehörigen XC wegen der Ablehnung des Antrags auf Erteilung eines nationalen Visums zum Zweck der Familienzusammenführung, den XC gestellt hatte, durch die Bundesrepublik Deutschland.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 2, 4, 6, 8 und 9 der Richtlinie 2003/86 wird ausgeführt:

„(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.

(4) Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Scha...

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