Entscheidungsstichwort (Thema)
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Art. 59 des Zusatzprotokolls. Art. 7 Abs. 1 und Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats. Richtlinie 2004/38/EG. Aufenthaltsrecht des Kindes eines türkischen Arbeitnehmers. Volljähriges Kind, das von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält. Mehrere strafrechtliche Verurteilungen. Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung
Beteiligte
Tenor
1. Ein türkischer Staatsangehöriger, der als Kind im Wege der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat einreisen durfte und das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation, der von dem durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrat erlassen wurde, erworben hat, verliert das von diesem Recht auf freien Zugang abgeleitete Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat nur in zwei Fallgruppen, nämlich
- in den Fällen des Art. 14 Abs. 1 dieses Beschlusses oder
- bei Verlassen des Aufnahmemitgliedstaats für einen nicht unerheblichen Zeitraum ohne berechtigte Gründe,
und zwar auch dann, wenn er älter als 21 Jahre ist, von seinen Eltern keinen Unterhalt mehr erhält, sondern im betreffenden Mitgliedstaat ein selbständiges Leben führt, und dem Arbeitsmarkt mehrere Jahre lang wegen der Verbüßung einer gegen ihn verhängten und nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von solcher Dauer nicht zur Verfügung gestanden hat.
In einer Situation wie der des Klägers des Ausgangsverfahrens ist die vorstehende Auslegung nicht mit den Anforderungen des Art. 59 des Zusatzprotokolls unvereinbar, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
2. Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist dahin auszulegen, dass er der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der mehrfach strafrechtlich verurteilt wurde, nicht entgegensteht, vorausgesetzt, dass dessen persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob das im Ausgangsverfahren der Fall ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) mit Entscheidung vom 16. August 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 21. August 2006, in dem Verfahren
Murat Polat
gegen
Stadt Rüsselsheim
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Klučka sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) und U. Lõhmus,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: R. Grass,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und C. Schulze-Bahr als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster, sodann durch C. Wissels als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch E. Ośniecka-Tamecka als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Jackson als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Kreuschitz als Bevollmächtigten,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 59 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (ABl. L 293, S. 1, im Folgenden: Zusatzprotokoll), sowie der Art. 7 und 14 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80). Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zudem die Auslegung von Art. 28 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen...