Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Zugang zur Beschäftigung. Lokale öffentliche Verwaltung. Sprachkenntnisse. Art des Nachweises
Normenkette
AEUV Art. 45; Verordnung (EU) Nr. 492/2011
Beteiligte
Tenor
1. Das Königreich Belgien hat dadurch, dass es von Bewerbern auf Stellen bei lokalen Dienststellen im französischen oder im deutschen Sprachgebiet, aus deren erforderlichen Diplomen oder Zeugnissen nicht ersichtlich ist, dass sie am Unterricht in der betreffenden Sprache teilgenommen haben, verlangt, dass sie ihre Sprachkenntnisse durch eine einzige Art von Bescheinigung nachweisen, die nur von einer einzigen amtlichen belgischen Einrichtung nach einer von dieser in Belgien abgehaltenen Prüfung ausgestellt wird, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union verstoßen.
2. Das Königreich Belgien trägt die Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 2. Juli 2014,
Europäische Kommission, vertreten durch J. Enegren und D. Martin als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Königreich Belgien, vertreten durch L. Van den Broeck, J. Van Holm und M. Jacobs als Bevollmächtigte,
Beklagter,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, des Richters A. Borg Barthet und der Richterin M. Berger (Berichterstatterin),
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass das Königreich Belgien dadurch, dass es von Bewerbern auf Stellen bei lokalen Dienststellen im französischen oder im deutschen Sprachgebiet, aus deren Diplomen oder Zeugnissen nicht ersichtlich ist, dass sie ihren Unterricht in der betreffenden Sprache absolviert haben, als einzigen Nachweis ihrer für den Zugang zu diesen Stellen erforderlichen Sprachkenntnisse den Erwerb der Bescheinigung verlangt, die das dem „Service public fédéral Personnel et Organisation” (Föderaler Öffentlicher Dienst Personal und Organisation) unterstehende „Bureau de sélection” (Auswahlbüro) (SELOR) nach Bestehen einer von ihm abgehaltenen Prüfung erteilt, gegen seine Verpflichtungen aus Art. 45 AEUV und der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141, S. 1) verstoßen hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 2
Die Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2), auf die in dem Aufforderungsschreiben und in der von der Kommission im vorliegenden Fall abgegebenen mit Gründen versehenen Stellungnahme Bezug genommen wird, wurde durch die Verordnung Nr. 492/2011 mit Wirkung vom 16. Juni 2011, also nach Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme genannten Frist, aufgehoben und ersetzt. Deren Art. 3 Abs. 1 übernimmt jedoch unverändert den Wortlaut des Art. 3 der Verordnung Nr. 1612/68. Er lautet:
„Die folgenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder Verwaltungspraktiken eines Mitgliedstaats finden im Rahmen dieser Verordnung keine Anwendung:
- Vorschriften, die das Stellenangebot und das Arbeitsgesuch, den Zugang zur Beschäftigung und deren Ausübung durch Ausländer einschränken oder von Bedingungen abhängig machen, die für Inländer nicht gelten; oder
- Vorschriften, die, ohne auf die Staatsangehörigkeit abzustellen, ausschließlich oder hauptsächlich bezwecken oder bewirken, dass Angehörige der übrigen Mitgliedstaaten von der angebotenen Stelle ferngehalten werden.
Unterabsatz 1 gilt nicht für Bedingungen, welche die in Anbetracht der Besonderheit der zu vergebenden Stelle erforderlichen Sprachkenntnisse betreffen.”
Belgisches Recht
Rz. 3
Die Verfassung definiert vier Sprachgebiete, d. h. vier gesonderte Teile des nationalen Hoheitsgebiets mit einheitlichen Regeln für den Sprachengebrauch, insbesondere in Verwaltungsangelegenheiten: das französische Sprachgebiet, das niederländische Sprachgebiet, das deutsche Sprachgebiet und das zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt.
Rz. 4
Die Bestimmungen in Kapitel III der „Lois coordonnées sur l'emploi des langues en matière administrative” (Koordinierte Gesetze über den Sprachengebrauch in Verwaltungsangelegenheiten, im Folgenden: Koordinierte Gesetze) vom 18. Juli 1966 (Moniteur belge vom 2. August 1966, S. 7799) in ihrer geänderten Fassung regeln u. a. den Sprachengebrauch in lokalen Dienststellen. Diese sind in Art. 1 § 2 und Art. 9 der Koordinierten Gese...