Entscheidungsstichwort (Thema)
Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr. Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Inhaftnahme. Haftverlängerung. Verpflichtungen der Verwaltungs- oder Justizbehörde. Gerichtliche Nachprüfung. Fehlen von Identitätsdokumenten bei einem Drittstaatsangehörigen. Hindernisse für den Vollzug der Abschiebungsentscheidung. Weigerung der Botschaft des betreffenden Drittstaats, ein Identitätsdokument auszustellen, das die Rückkehr des Angehörigen dieses Staates ermöglicht. Fluchtgefahr. Hinreichende Aussicht auf Abschiebung. Mangelnde Kooperationsbereitschaft. Etwaige Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats, ein vorläufiges Dokument über den Status des Betroffenen auszustellen
Normenkette
Richtlinie 2008/115/EG Art. 15
Beteiligte
Tenor
1. Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist im Licht der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass jede Entscheidung, die eine zuständige Behörde bei Ablauf der Höchstdauer der erstmaligen Haft eines Drittstaatsangehörigen über die Fortdauer der Haft erlässt, in Form einer schriftlichen Maßnahme ergehen muss, in der die tatsächlichen und rechtlichen Gründe für diese Entscheidung angegeben sind.
2. Art. 15 Abs. 3 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass die Kontrolle, die die mit einem Antrag auf Verlängerung der Haft eines Drittstaatsangehörigen befasste Justizbehörde vorzunehmen hat, dieser erlauben muss, im jeweiligen Einzelfall in der Sache darüber zu entscheiden, ob die Haft des betreffenden Drittstaatsangehörigen zu verlängern ist, ob sie durch eine weniger intensive Zwangsmaßnahme ersetzt werden kann oder ob der Drittstaatsangehörige freizulassen ist; die Justizbehörde ist dementsprechend befugt, sich auf die von der antragstellenden Verwaltungsbehörde vorgelegten Tatsachen und Beweise sowie auf die ihr eventuell während dieses Verfahrens unterbreiteten Tatsachen, Beweise und Stellungnahmen zu stützen.
3. Art. 15 Abs. 1 und 6 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach ein erster Haftzeitraum von sechs Monaten bereits deswegen verlängert werden kann, weil der betreffende Drittstaatsangehörige keine Identitätsdokumente besitzt. Es ist allein Sache des vorlegenden Gerichts, eine fallspezifische Beurteilung der tatsächlichen Umstände der betreffenden Sache vorzunehmen, um festzustellen, ob eine weniger intensive Zwangsmaßnahme wirksam auf den Drittstaatsangehörigen angewandt werden kann oder ob Fluchtgefahr bei ihm besteht.
4. Art. 15 Abs. 6 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass bei einem Drittstaatsangehörigen, der unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens kein Identitätsdokument erhalten hat, das seine Abschiebung aus dem betreffenden Mitgliedstaat ermöglicht hätte, nur dann „mangelnde Kooperationsbereitschaft” im Sinne dieser Bestimmung angenommen werden kann, wenn die Prüfung des Verhaltens des Drittstaatsangehörigen während der Haft ergibt, dass er nicht bei der Durchführung der Abschiebung kooperiert hat und dass diese wegen dieses Verhaltens wahrscheinlich länger dauern wird als vorgesehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
5. Die Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet sein kann, einem Drittstaatsangehörigen, der keine Identitätsdokumente besitzt und von seinem Herkunftsland keine solchen Dokumente erhalten hat, einen eigenen Aufenthaltstitel oder eine sonstige Aufenthaltsberechtigung zu erteilen, nachdem ein nationaler Richter diesen Drittstaatsangehörigen mit der Begründung freigelassen hat, dass keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr im Sinne von Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie bestehe. Der Mitgliedstaat hat dem Drittstaatsangehörigen jedoch in einem solchen Fall eine schriftliche Bestätigung seiner Situation auszustellen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Administrativen sad Sofia-grad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 28. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren
Bashir Mohamed Ali Mahdi
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund und A. Ó Caoimh (Berichterstatter), der Richterin C. Toader und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 28. März 2014, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Dritt...