Entscheidungsstichwort (Thema)
Verbot der Doppelbestrafung. Geltungsbereich. Von einem Gericht eines Vertragsstaats erlassener Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung der Hauptverhandlung wegen Mangels an Beweisen. Möglichkeit der Wiederaufnahme des Ermittlungsverfahrens bei Auftauchen neuer Belastungstatsachen. Begriff ‚rechtskräftig abgeurteilt’. Strafverfolgung in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer auf demselben Sachverhalt beruhenden Straftat. Strafklageverbrauch und Verbot der Doppelbestrafung
Normenkette
Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen Art. 54
Beteiligte
Tenor
Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen ist dahin auszulegen, dass ein Einstellungsbeschluss ohne Eröffnung des Hauptverfahrens, der in dem Vertragsstaat, in dem dieser Beschluss ergangen ist, erneute Ermittlungen aufgrund des gleichen Sachverhalts gegen die Person, zu deren Gunsten dieser Beschluss ergangen ist, verhindert, sofern keine neuen Belastungstatsachen gegen Letztere auftauchen, als eine rechtskräftige Aburteilung im Sinne dieses Artikels anzusehen ist und somit erneute Ermittlungen wegen derselben Tat gegen dieselbe Person in einem anderen Vertragsstaat ausschließt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Tribunale di Fermo (Italien) mit Entscheidung vom 11. Juli 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 29. August 2012, in dem Strafverfahren gegen
M
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), des Vizepräsidenten K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Vierten Kammer, der Richter M. Safjan und J. Malenovský sowie der Richterin A. Prechal,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Q und R, vertreten durch C. Taormina und L. V. Mascioli, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,
- der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Schillemans, M. de Ree, C. Wissels und B. Koopman als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Arciszewski, M. Szpunar und M. Szwarc als Bevollmächtigte,
- der schweizerischen Regierung, vertreten durch D. Klingele als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Moro und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. Februar 2014
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: SDÜ).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Italien eingeleiteten Strafverfahrens gegen M auf Grundlage des gleichen Sachverhalts, der in Belgien Gegenstand paralleler Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger in Belgien zwischen Mai 2001 und Februar 2004 war.
Rechtlicher Rahmen
Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Rz. 3
Die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) enthält im Anhang das am 22. November 1984 in Straßburg unterzeichnete und von 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union ratifizierte Protokoll Nr. 7 (im Folgenden: Protokoll Nr. 7 zur EMRK), dessen Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden”) wie folgt lautet:
„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwe...