Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz. Ausschluss von der Anerkennung als Flüchtling. Beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) registrierte Person. Voraussetzungen dafür, dass diese Person ipso facto den Schutz der Richtlinie 2011/95 genießt. Wegfall des Schutzes oder des Beistands des UNRWA. Mangelnde medizinische Versorgung. Voraussetzungen
Normenkette
EURL 95/2011 Art. 12
Beteiligte
OFPRA (Statut de réfugié d’un apatride d’origine palestinienne) |
Office français de protection des réfugiés et apatrides |
Tenor
Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
ist dahin auszulegen, dass
der Schutz oder Beistand des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) als nicht länger gewährt anzusehen ist, wenn diese Organisation einem Staatenlosen palästinensischer Herkunft, dem dieser Schutz oder Beistand gilt, den Zugang zu der medizinischen Versorgung und Behandlung nicht gewährleisten kann, ohne die für ihn eine tatsächliche unmittelbare Lebensgefahr oder die tatsächliche Gefahr einer ernsten, raschen und irreversiblen Verschlechterung seines Gesundheitszustands oder einer erheblichen Verkürzung seiner Lebenserwartung besteht. Es ist Sache des nationalen Gerichts, das Bestehen einer solchen Gefahr zu prüfen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-294/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 22. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Mai 2022, in dem Verfahren
Office français de protection des réfugiés et apatrides
gegen
SW
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: M. Siekierzyńska, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von SW, vertreten durch P. Spinosi, Avocat,
- – der französischen Regierung, vertreten durch J.-L. Carré und J. Illouz als Bevollmächtigte,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Mai 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen SW und dem Office français de protection des réfugiés et apatrides (Französisches Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen, im Folgenden: OFPRA) wegen dessen Ablehnung des Antrags von SW auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder, hilfsweise, auf subsidiären Schutz.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Genfer Flüchtlingskonvention
Rz. 3
Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, Nr. 2545 [1954], S. 150) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt und geändert durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene und am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention).
Rz. 4
Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention lautet:
„Dieses Abkommen findet keine Anwendung auf Personen, die zurzeit den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge [(UNHCR)] genießen.
Ist dieser Schutz oder diese Unterstützung aus irgendeinem Grunde weggefallen, ohne dass das Schicksal dieser Personen endgültig gemäß den hierauf bezüglichen Entschließungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen geregelt worden ist, so fallen diese Personenipso factounter die Bestimmungen dieses Abkommens.“
Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA)
Rz. 5
Mit der Resolution Nr. 302 (IV) der Generalversamml...