Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylpolitik. Vorlage zur Vorabentscheidung. Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus. Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft. Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Gefahr für die Allgemeinheit. Verhältnismäßigkeitsprüfung

 

Normenkette

EURL 95/2011 Art. 14 Abs. 4 Buchst. b

 

Beteiligte

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Crime particulièrement grave)

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

M. A.

 

Tenor

1.Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

eine „besonders schwere Straftat“ im Sinne dieser Bestimmung eine Straftat ist, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweist, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Bei der Beurteilung, ob eine Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen Schweregrad aufweist, sind insbesondere die für diese Straftat angedrohte und die verhängte Strafe, die Art der Straftat, etwaige erschwerende oder mildernde Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat zu berücksichtigen.

2.Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

3.Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-402/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 15. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2022, in dem Verfahren

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

M. A.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        von M. A., vertreten durch R. C. van den Berg, Advocaat,
  • –        der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
  • –        der ungarischen Regierung, vertreten durch Z. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Mai 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen M. A., einem Drittstaatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) wegen der Ablehnung des Antrags von M. A. auf internationalen Schutz.

Rechtlicher Rahmen

Rz. 3

Der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.“

Rz. 4

Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für...

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