Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Auslieferung eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat, an einen Drittstaat. Anwendungsbereich des Unionsrechts. Schutz der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats vor Auslieferung. Kein Schutz der Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten. Beschränkung der Freizügigkeit. Rechtfertigung mit der Verhinderung von Straflosigkeit. Verhältnismäßigkeit. Prüfung der in Art. 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Garantien
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 19
Beteiligte
Tenor
1. Die Art. 18 und 21 AEUV sind dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, in den sich ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, begeben hat, im Fall eines Auslieferungsantrags eines Drittstaats, mit dem der erstgenannte Mitgliedstaat ein Auslieferungsabkommen geschlossen hat, verpflichtet ist, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, zu informieren und ihm gegebenenfalls auf sein Ersuchen den Unionsbürger im Einklang mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung zu übergeben, sofern dieser Mitgliedstaat nach seinem nationalen Recht für die Verfolgung dieser Person wegen im Ausland begangener Straftaten zuständig ist.
2. Ein Mitgliedstaat, der mit einem Antrag eines Drittstaats auf Auslieferung eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats befasst ist, muss prüfen, dass die Auslieferung die in Art. 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgten Rechte nicht beeinträchtigen wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 26. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2015, in dem Verfahren betreffend die Auslieferung von
Aleksei Petruhhin
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin C. Toader, des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter E. Levits, J.-C. Bonichot, M. Safjan, C. G. Fernlund (Berichterstatter) und S. Rodin,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. März 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš als Bevollmächtigten,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, J. Möller, M. Hellmann und J. Kemper als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch E. Creedon, L. Williams und T. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von C. Toland, BL, und D. Kelly, advisory counsel,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und F.-X. Bréchot als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch V. Kaye als Bevollmächtigte im Beistand von J. Holmes, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, E. Kalniņš und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. Mai 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 AEUV sowie von Art. 19 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Auslieferungsersuchens, das die russischen Behörden in Bezug auf Herrn Aleksei Petruhhin, einen estnischen Staatsangehörigen, im Zusammenhang mit einer Straftat des Handels mit Betäubungsmitteln an die lettischen Behörden gerichtet haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) sieht in seinem Art. 1 Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentzieh...