Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtigkeitsklage. Beschluss (EU) 2015/1601. Vorläufige Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten der Hellenischen Republik und der Italienischen Republik. Notlage bestimmter Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in ihr Hoheitsgebiet. Umsiedlung dieser Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten. Umsiedlungskontingente. Rechtsgrundlage. Anwendungsvoraussetzungen. Begriff ‚Gesetzgebungsakt’. Zwingender Charakter von Schlussfolgerungen des Europäischen Rates für den Rat der Europäischen Union. Wesentliche Formvorschriften. Änderung des Vorschlags der Europäischen Kommission. Erfordernis einer erneuten Anhörung des Europäischen Parlaments und der Einstimmigkeit im Rat der Europäischen Union. Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 78 Abs. 3, Art. 289 Abs. 3, Art. 68, 293; EUV Art. 15
Beteiligte
Rat der Europäischen Union |
Tenor
1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Slowakische Republik und Ungarn tragen neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Rates der Europäischen Union.
3. Das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, die Französische Republik, die Italienische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Republik Polen, das Königreich Schweden und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Nichtigkeitsklagen nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 2. und am 3. Dezember 2015,
Slowakische Republik, vertreten durch das Ministerstvo spravodlivosti Slovenskej republiky (C-643/15),
und
Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte (C-647/15),
Klägerinnen,
unterstützt durch
Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna und M. Kamejsza als Bevollmächtigte,
Streithelferin,
gegen
Rat der Europäischen Union, vertreten durch M. Chavrier, K. Pleśniak, N. Pethő und Z. Kupčová als Bevollmächtigte,
Beklagter,
unterstützt durch
Königreich Belgien, vertreten durch J. Van Holm, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch T. Henze, R. Kanitz und J. Möller (C-647/15) als Bevollmächtigte,
Hellenische Republik, vertreten durch M. Michelogiannaki und A. Samoni-Rantou als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Französische Republik, vertreten durch D. Colas F.-X. Bréchot und E. Armoet als Bevollmächtigte,
Italienische Republik, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D'Ascia, avvocato dello Stato,
Großherzogtum Luxemburg, vertreten durch A. Germeaux, C. Schiltz und D. Holderer als Bevollmächtigte,
Königreich Schweden, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, U. Persson, O. Widgren, E. Karlsson und L. Swedenborg als Bevollmächtigte,
Europäische Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und K. Talabér-Ritz (C-647/15) sowie durch J. Baquero Cruz, A. Tokár (C-643/15) und G. Wils als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Streithelfer,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan, E. Jarašiūnas, C. G. Fernlund, C. Vajda, S. Rodin und F. Biltgen,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. Mai 2017,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Juli 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihren Klagen begehren die Slowakische Republik und Ungarn die Nichtigerklärung des Beschlusses (EU) 2015/1601 des Rates vom 22. September 2015 zur Einführung von vorläufigen Maßnahmen im Bereich des internationalen Schutzes zugunsten von Italien und Griechenland (ABl. 2015, L 248, S. 80, im Folgenden: angefochtener Beschluss).
I. Der angefochtene Beschluss: Kontext, Entstehungsgeschichte und Inhalt
A. Kontext des angefochtenen Beschlusses
Rz. 2
Der Kontext, in dem der angefochtene Beschluss erlassen wurde, wird in dessen Erwägungsgründen 3 bis 7 und 10 bis 16 wie folgt beschrieben:
„(3) Die jüngste Krisensituation im Mittelmeer veranlasste die Organe der [Europäischen] Union, umgehend anzuerkennen, dass ein außergewöhnlicher Zustrom von Migranten in dieser Region stattfindet, und konkrete Maßnahmen der Solidarität mit den Mitgliedstaaten an den Außengrenzen zu fordern. So legte die [Europäische] Kommission auf der gemeinsamen Tagung der Außen- und Innenminister vom 20. April 2015 einen Zehn-Punkte-Plan mit Sofortmaßnahmen als Reaktion auf die Krise vor und verpflichtete sich unter anderem, Optionen für eine Notfall-Umsiedlungsregelung zu prüfen.
(4) Auf seiner Tagung vom 23. April 2015 beschloss der Europäische Rat unter anderem, die i...