Entscheidungsstichwort (Thema)
ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SOZIALGERICHT STUTTGART – DEUTSCHLAND. Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer. Gemeinschaftsregelung. Substituierung von Sozialversicherungsabkommen zwischen Mitgliedstaaten. Grenzen. Aufrechterhaltung der Leistungen, die früher aus der Verbindung von nationalem Recht und Abkommen erwuchsen
Leitsatz (amtlich)
Artikel 48 Absatz 2 und Artikel 51 EWG-Vertrag lassen nicht zu, daß Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil in das nationale Recht eingeführte Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 1408/71 unanwendbar geworden sind.
Wenn der Grundsatz, daß die Verordnung Nr. 1408/71 an die Stelle der Abkommen über die soziale Sicherheit zwischen Mitgliedstaaten tritt, auch zwingend ist, so darf er doch nicht zur Folge haben, daß der Zweck der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag verfehlt wird; das aber wäre dann der Fall, wenn die Arbeitnehmer, die von ihrem Recht auf Freizuegigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen früher das nationale Recht als solches oder in Verbindung mit Sozialversicherungsabkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten sicherte.
Normenkette
EWGVtr Art. 48 Abs. 2, Art. 51; EWGV 1408/71 Art. 6-7
Beteiligte
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte |
Tenor
Artikel 48 Absatz 2 und Artikel 51 EWG-Vertrag lassen nicht zu, daß Arbeitnehmer Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlieren, weil in das nationale Recht eingeführte Abkommen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten aufgrund des Inkrafttretens der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, unanwendbar geworden sind.
Gründe
1 Das Sozialgericht Stuttgart hat mit Beschluß vom 9. Februar 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Juli 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die in der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 149, S. 2), sowie von Artikel 48 Absatz 2 und Artikel 51 EWG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen L. Rönfeldt und der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte über die Berechnung von Altersrente.
3 Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland. Von 1941 bis 1957 entrichtete er Beiträge zur deutschen Rentenversicherung. Anschließend arbeitete er bis 1971 in Dänemark und führte während dieses Zeitraums Beiträge zur dänischen Sozialversicherung ab. Ab 1971 war er in Deutschland beschäftigt und dort versicherungspflichtig.
4 Nach den Akten ist das Rentenalter in Dänemark nicht dasselbe wie in Deutschland. Die Altersgrenze nach dänischem Recht ist das 67. Lebensjahr, nach deutschem Recht das 65. Lebensjahr mit der Möglichkeit der Inanspruchnahme vorgezogenen Altersruhegelds nach Erreichen des 63. Lebensjahrs. § 25 des Angestelltenversicherungsgesetzes bestimmt:
„(1) Altersruhegeld erhält auf Antrag der Versicherte, der das 63. Lebensjahr vollendet hat …, wenn die Wartezeit nach Absatz 7 Satz 1 erfüllt ist.
…
(7) Die Wartezeit … ist erfüllt, wenn fünfunddreissig anrechnungsfähige Versicherungsjahre, in denen mindestens eine Versicherungszeit von einhundertachtzig Kalendermonaten enthalten ist, zurückgelegt sind…”
5 Als der Kläger sich dem 63. Lebensjahr näherte, bemühte er sich um ein vorgezogenes Altersruhegeld nach deutschem Recht. Das war jedoch nicht möglich, da nach Auffassung der BfA die in Dänemark entrichteten Beiträge für die deutschen Rentenansprüche des Klägers erst berücksichtigt werden können, wenn er die nach dänischem Recht vorgesehene allgemeine gesetzliche Altersgrenze, also das 67. Lebensjahr, erreicht hat.
6 Aus diesem Grund erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Stuttgart, wobei er geltend machte, die dänischen Versicherungszeiten müssten unabhängig von der im dänischen Recht vorgesehenen Altersgrenze bei der Berechnung der deutschen Rente berücksichtigt werden. Hierzu berief er sich auf das Sozialversicherungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Dänemark vom 14. August 1953, wonach dänische Versicherungszeiten nicht nur für die Erfüllung der Wartezeit, sondern auch für die Berechnung der Rentenhöhe zu berücksichtigen seien.
7 Die BfA vertrat hingegen die Ansicht, daß die dänischen Versicherungszeiten nur für die Erfüllung der Wartezeit und der Voraussetzungen des Rentenanspruchs berücksichtigt werden könnten. Auf das deutsch-dänische Abkommen könne sich der Kläger nicht berufen, weil die Gemeinschaftsverordnungen über die soziale Sicherheit an die Stelle der Abkommen zwischen Mitgliedstaaten getrete...