Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz personenbezogener Daten. Daten, die sich im Besitz eines Gerichts befinden, über strafrechtliche Verurteilungen einer natürlichen Person. Mündliche Übermittlung solcher Daten an ein Unternehmen wegen eines von diesem organisierten Wettbewerbs. Begriff ,Verarbeitung personenbezogener Daten‘. Nationale Vorschriften über den Zugang zu diesen Daten. Ausgleich zwischen dem Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zu amtlichen Dokumenten und dem Schutz personenbezogener Daten
Normenkette
EUVO 679/2016 Art. 2, 4, 6, 10, 86
Beteiligte
Tenor
1.Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)
sind dahin auszulegen, dass
eine mündliche Auskunft über möglicherweise verhängte oder bereits verbüßte Strafen in Bezug auf eine natürliche Person eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 2 der Verordnung darstellt, die in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, wenn diese Informationen in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.
2.Die Bestimmungen der Verordnung 2016/679, insbesondere ihr Art. 6 Abs. 1 Buchst. e und ihr Art. 10,
sind dahin auszulegen, dass
dass sie dem entgegenstehen, dass Daten in einem Personenregister eines Gerichts über strafrechtliche Verurteilungen einer natürlichen Person jedem mündlich mitgeteilt werden können, um einen Zugang der Öffentlichkeit zu amtlichen Dokumenten sicherzustellen, ohne dass die Person, die die Mitteilung begehrt, ein besonderes Interesse an diesen Daten geltend machen muss; dabei ist unerheblich, ob diese Person ein Unternehmen oder eine Privatperson ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-740/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Itä-Suomen hovioikeus (Berufungsgericht Ostfinnland, Finnland) mit Entscheidung vom 30. November 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Dezember 2022, in dem Verfahren
Endemol Shine Finland Oy
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz (Berichterstatter) sowie des Richters P. G. Xuereb und der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der finnischen Regierung, vertreten durch A. Laine und M. Pere als Bevollmächtigte,
- – der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa, J. Ramos und C. Vieira Guerra als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, H. Kranenborg und I. Söderlund als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Nr. 2 und Art. 86 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens betreffend die Weigerung eines nationalen Gerichts, der Endemol Shine Finland Oy Daten über strafrechtliche Verurteilungen mitzuteilen, die einen Dritten betreffen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 4, 10, 11, 15, 19 und 154 der DSGVO heißt es:
„(4) Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte im Dienste der Menschheit stehen. Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten ist kein uneingeschränktes Recht; es muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden. Diese Verordnung steht im Einklang mit allen Grundrechten und achtet alle Freiheiten und Grundsätze, die mit der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union, im Folgenden: Charta] anerkannt wurden und in den Europäischen Verträgen verankert sind, insbesondere Achtung des Privat- und Familienlebens, … Schutz personenbezogener Daten, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, unternehmerische Freiheit, Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren …
…
(10) Um ein gleichmäßiges und hohes Datenschutzniveau für natürliche Personen zu gewährleisten und die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der [Europäischen] Union zu beseitigen, sollte das Schutzniveau für die Rechte und Freiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung dieser Daten in allen Mitgliedstaaten gleichwertig sein. Die Vorschrift...