Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Begriffe ‚Zivil- und Handelssachen’ und ‚verwaltungsrechtliche Angelegenheiten’. Geltungsbereich. Tätigkeiten der Schiffsklassifikations- und -zertifizierungsgesellschaften. Acta iure imperii und acta iure gestionis. Hoheitliche Befugnisse. Staatenimmunität

 

Normenkette

EGV 44/2001 Art. 1 Abs. 1

 

Beteiligte

Rina

LG u. a

Rina SpA

Ente Registro Italiano Navale

 

Tenor

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass eine Schadensersatzklage, die gegen juristische Personen des Privatrechts erhoben wird, die für Rechnung und im Auftrag eines Drittstaats eine Schiffsklassifikations- und -zertifizierungstätigkeit ausüben, unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen” im Sinne dieser Bestimmung und folglich in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt, soweit diese Tätigkeit nicht aufgrund hoheitlicher Befugnisse im Sinne des Unionsrechts ausgeübt wird, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. Der völkergewohnheitsrechtliche Grundsatz der Staatenimmunität steht der Ausübung der in dieser Verordnung vorgesehenen gerichtlichen Zuständigkeit durch das angerufene nationale Gericht in einem Rechtsstreit über einen solchen Rechtsbehelf nicht entgegen, wenn es feststellt, dass die betreffenden Einrichtungen keinen Gebrauch von hoheitlichen Befugnissen im Sinne des Völkerrechts gemacht haben.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Genova (Gericht Genua, Italien) mit Entscheidung vom 28. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Oktober 2018, in dem Verfahren

LG u. a.

gegen

Rina SpA,

Ente Registro Italiano Navale

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader (Berichterstatterin),

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 18. September 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von LG u. a., vertreten durch R. Ambrosio, S. Commodo, S. Bertone, M. Bona, A. Novelli und F. Pocar, avvocati, C. Villacorta Salis, abogado, J.-P. Bellecave, avocat, sowie N. Taylor, Solicitor,
  • der Rina SpA und der Ente Registro Italiano Navale, vertreten durch G. Giacomini, F. Siccardi, R. Bassi, M. Campagna, T. Romanengo, F. Ronco und M. Giacomini, avvocati,
  • der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, D. Dubois und E. de Moustier als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller, S. L. Kaleda und L. Malferrari als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2020

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und des 16. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2009/15/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über gemeinsame Vorschriften und Normen für Schiffsüberprüfungs- und -besichtigungsorganisationen und die einschlägigen Maßnahmen der Seebehörden (ABl. 2009, L 131, S. 47).

Rz. 2

Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen LG u. a. auf der einen und der Rina SpA und der Ente Registro Italiano Navale (im Folgenden zusammen: Rina-Gesellschaften) auf der anderen Seite über die im Rahmen der zivilrechtlichen Haftung bestehende Pflicht zum Ersatz des Vermögens- und des Nichtvermögensschadens, den LG u. a. aufgrund des Untergangs des Schiffes Al Salam Boccaccio’98, der sich in der Nacht vom 2. Februar zum 3. Februar 2006 im Roten Meer ereignete, erlitten hatten.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

Rz. 3

Das am 10. Dezember 1982 in Montego Bay unterzeichnete Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (im Folgenden: Montego-Bay-Übereinkommen) trat am 16. November 1994 in Kraft. Es wurde mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. 1998, L 179, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt.

Rz. 4

Nach Art. 90 („Schifffahrtsrecht”) dieses Übereinkommens hat „[j]eder Staat… das Recht, Schiffe, die seine Flagge führen, auf hoher See zu fahren”.

Rz. 5

Art. 91 („Staatszugehörigkeit der Schiffe”) des Übereinkommens sieht vor:

„(1) Jeder Staat legt die Bedingungen fest, zu denen er Schiffen seine Staatszugehörigkeit gewährt, sie in seinem Hoheitsgebiet in das Schiffregister einträgt ...

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