Entscheidungsstichwort (Thema)
Freier Kapitalverkehr. Art. 63 AEUV und 65 AEUV. Betriebliche Vorsorgekassen. Kapitalanlage. In einem anderen Mitgliedstaat errichtete Kapitalanlagefonds. Zulässigkeit der Anlage in solchen Fonds nur, wenn diese im Inland zum Vertrieb ihrer Anteile zugelassen sind
Beteiligte
Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA) |
Tenor
Art. 63 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die einer Betrieblichen Vorsorgekasse oder der von dieser zur Verwaltung ihrer Mittel eingerichteten Veranlagungsgemeinschaft die Veranlagung dieser Mittel in Anteilscheinen eines Kapitalanlagefonds, der in einem anderen Mitgliedstaat errichtet ist, nur gestattet, wenn dieser Fonds zum Vertrieb seiner Anteile im Inland zugelassen worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 10. Januar 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2011, in dem Verfahren
VBV – Vorsorgekasse AG
gegen
Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters J. Malenovský, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter) und G. Arestis,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Januar 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der VBV – Vorsorgekasse AG, vertreten durch Rechtsanwalt C. Leitgeb,
- der Finanzmarktaufsichtsbehörde (FMA), vertreten durch R. Hellwagner als Bevollmächtigten,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Očková als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und K.-P. Wojcik als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der unionsrechtlichen Vorschriften zum freien Kapitalverkehr, insbesondere der Art. 63 AEUV und 65 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der VBV – Vorsorgekasse AG (im Folgenden: VBV) und der Finanzmarktaufsichtsbehörde (im Folgenden: FMA) wegen des Erwerbs von Anteilscheinen eines Kapitalanlagefonds, der in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Österreich errichtet ist.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Richtlinie 85/611/EWG des Rates vom 20. Dezember 1985 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend bestimmte Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) (ABl. L 375, S. 3) in ihrer durch die Richtlinie 2001/108/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Januar 2002 (ABl. L 41, S. 35) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 85/611) sieht in ihrem Art. 1, der zu ihrem Abschnitt I („Allgemeine Bestimmungen und Anwendungsbereich”) gehört, Folgendes vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten unterwerfen die in ihrem Gebiet ansässigen Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren (OGAW) dieser Richtlinie.
(2) Vorbehaltlich des Artikels 2 sind im Sinne dieser Richtlinie als OGAW diejenigen Organismen anzusehen,
- deren ausschließlicher Zweck es ist, beim Publikum beschaffte Gelder für gemeinsame Rechnung nach dem Grundsatz der Risikostreuung in Wertpapieren und/oder anderen in Artikel 19 Absatz 1 genannten liquiden Finanzanlagen zu investieren, und
- deren Anteile auf Verlangen der Anteilinhaber unmittelbar oder mittelbar zu Lasten des Vermögens dieser Organismen zurückgenommen oder ausgezahlt werden. Diesen Rücknahmen oder Auszahlungen gleichgestellt sind Handlungen, mit denen ein OGAW sicherstellen will, dass der Kurs seiner Anteile nicht erheblich von deren Nettoinventarwert abweicht.
…”
Rz. 4
Art. 19 der Richtlinie 85/611, der zu deren Abschnitt V („Verpflichtungen betreffend die Anlagepolitik der OGAW”) gehört, enthält detaillierte Bestimmungen in Bezug auf die Wertpapiere, in denen ein OGAW seine Mittel anlegen darf, sowie die Bedingungen und Beschränkungen für solche Anlagen.
Österreichisches Recht
Rz. 5
Das Betriebliche Mitarbeiter- und Selbständigenvorsorgegesetz (BGBl. I 100/2002) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (BGBl. I 102/2007, im Folgenden: BMSVG) sieht in seinem § 6 Abs. 1 vor, dass der Arbeitgeber, sofern das Arbeitsverhältnis länger als einen Monat dauert, an den für den Arbeitnehmer zuständigen Träger der Krankenversicherung zur Weiterleitung an die Betriebliche Vorsorgekasse einen laufenden Beitrag in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des monatlichen Entgelts zu überweisen hat. Nach § 14 Abs. 1 BMSVG hat der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen die für ihn zuständige Betriebliche Vorsorgekasse Anspruch auf eine Abfertigung.
Rz. 6
Gemäß § 18 Abs. 1 und 2 BMSVG muss eine Betriebliche Vorsorgekasse b...