Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Verbot der Altersdiskriminierung. Ausschluss der vor Vollendung des 18. Lebensjahrs erworbenen Berufserfahrung. Neues Besoldungs- und Vorrückungssystem. Beibehaltung der Ungleichbehandlung. Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf. Rechtfertigungsgründe
Normenkette
Richtlinie 2000/78/EG; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Landespolizeidirektion Tirol |
Tenor
1. Die Art. 1, 2 und 6 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind in Verbindung mit Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie einer rückwirkend in Kraft gesetzten nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, wonach zur Beseitigung einer Diskriminierung wegen des Alters die Überleitung von Beamten im Dienststand in ein neues Besoldungs- und Vorrückungssystem vorgesehen ist, in dem sich die erste Einstufung dieser Beamten nach ihrem letzten gemäß dem alten System bezogenen Gehalt richtet.
2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 9 der Richtlinie 2000/78 sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens den Umfang der Kontrolle, die von den nationalen Gerichten ausgeübt werden kann, einschränkt, indem Fragen im Zusammenhang mit der Grundlage des anhand des alten Besoldungs- und Vorrückungssystems berechneten „Überleitungsbetrags” ausgeschlossen werden.
3. Das nationale Gericht ist, wenn nationale Rechtsvorschriften nicht im Einklang mit der Richtlinie 2000/78 ausgelegt werden können, verpflichtet, im Rahmen seiner Befugnisse den Rechtsschutz, der dem Einzelnen aus dieser Richtlinie erwächst, zu gewährleisten und für ihre volle Wirkung zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift unangewendet lässt. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Wiederherstellung der Gleichbehandlung in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, wenn eine unionsrechtswidrige Diskriminierung festgestellt wurde und solange keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Gleichbehandlung erlassen wurden, voraussetzt, dass den durch das alte Besoldungs- und Vorrückungssystem benachteiligten Beamten die gleichen Vorteile gewährt werden wie den von diesem System begünstigten Beamten, sowohl in Bezug auf die Berücksichtigung vor Vollendung des 18. Lebensjahrs zurückgelegter Vordienstzeiten als auch bei der Vorrückung in der Gehaltstabelle, und dass den diskriminierten Beamten infolgedessen ein finanzieller Ausgleich in Höhe der Differenz zwischen dem Gehalt, das der betreffende Beamte hätte beziehen müssen, wenn er nicht diskriminiert worden wäre, und dem tatsächlich von ihm bezogenen Gehalt gewährt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 30. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Juli 2017, in dem Verfahren
Martin Leitner
gegen
Landespolizeidirektion Tirol
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter A. Arabadjiev (Berichterstatter), E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. September 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Leitner, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Riedl und V. Treber-Müller,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Hesse und J. Schmoll als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 6. Dezember 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 1, 2, 6, 9, 16 und 17 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Martin Leitner und der Landespolizeidirektion Tirol (Österreich) über die Vorrückung und die besoldungsrechtliche Stellung des Klägers des Ausgangsverfahrens.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2000/78
Rz. 3
Gemäß ihrem Art. 1 bezweckt die Richtlinie 2000/78 „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung u...