Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäische Ermittlungsanordnung. Begriffe ‚Justizbehörde’ und ‚Anordnungsbehörde’. Von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats erlassene Europäische Ermittlungsanordnung. Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive

 

Normenkette

RL 2014/41/EU Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Buchst. c Ziff. i, Art. 2 Buchst. c Ziff. ii

 

Beteiligte

Staatsanwaltschaft Wien

A. u. a

 

Tenor

Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen sind dahin auszulegen, dass unter die Begriffe „Justizbehörde” und „Anordnungsbehörde” im Sinne dieser Bestimmungen der Staatsanwalt eines Mitgliedstaats oder ganz allgemein die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats fällt, unabhängig davon, ob zwischen diesem Staatsanwalt oder dieser Staatsanwaltschaft und der Exekutive dieses Mitgliedstaats möglicherweise ein rechtliches Unterordnungsverhältnis besteht und dieser Staatsanwalt oder diese Staatsanwaltschaft der Gefahr ausgesetzt ist, im Rahmen des Erlasses einer Europäischen Ermittlungsanordnung unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive unterworfen zu werden.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesgericht für Strafsachen Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 1. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 2. August 2019, in dem Strafverfahren gegen

A. u. a.,

Beteiligte:

Staatsanwaltschaft Wien,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan, L. Bay Larsen, N. Piçarra, A. Kumin und N. Wahl sowie des Richters T. von Danwitz, der Richterinnen C. Toader, K. Jürimäe (Berichterstatterin) und L. S. Rossi sowie der Richter I. Jarukaitis und N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll, J. Herrnfeld und C. Leeb als Bevollmächtigte,
  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
  • der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und J. Langer als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Juli 2020

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Ersuchens um Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung in Strafsachen, die von der Staatsanwaltschaft Hamburg (Deutschland) in Bezug auf A. und weitere unbekannte Personen erlassen wurde, die der Fälschung von Überweisungsaufträgen verdächtigt werden, in Österreich.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 2, 5 bis 8, 10 bis 12, 15, 19, 21, 22, 34 und 39 der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„(2) Nach Artikel 82 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, der seit der Tagung des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere allgemein als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union bezeichnet wird.

(5) Seit Annahme der Rahmenbeschlüsse [2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl. 2003, L 196, S. 45)] und [2008/978/JI des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (ABl. 2008, L 350, S. 72)] ist deutlich geworden, dass der bestehende Rahmen für die Erhebung von Beweismitteln zu fragmentiert und zu kompliziert ist. Daher ist ein neuer Ansatz erforderlich.

(6) In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiter verfolgt werden sollte. Dem Europäischen Rat zufolge stellten die bestehenden Rechtsi...

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