Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Bestimmung der zuständigen Justizbehörden. Entscheidung über die Aufschiebung der Übergabe der gesuchten Person, die von einem Organ erlassen wird, das keine vollstreckende Justizbehörde ist. Ablauf der Fristen für die Übergabe. Folgen. Inhafthaltung der gesuchten Person zum Zwecke der Strafverfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat. Recht der verfolgten Person, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 6 Abs. 2, Art. 23, 12, 24 Abs. 1; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 6, 47-48
Beteiligte
Tenor
1. Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
die in dieser Bestimmung genannte Entscheidung, die Übergabe der gesuchten Person aufzuschieben, eine Entscheidung über die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darstellt, die nach Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses von der vollstreckenden Justizbehörde zu treffen ist. Wurde eine solche Entscheidung nicht von dieser Behörde getroffen und sind die in Art. 23 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses genannten Fristen abgelaufen, ist die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses freizulassen.
2. Art. 12 und Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
ist dahin auszulegen, dass
sie dem nicht entgegenstehen, dass eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist und deren Übergabe an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats zum Zwecke ihrer strafrechtlichen Verfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat aufgeschoben wurde, dort auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls während dieser Strafverfolgung in Haft gehalten wird.
3. Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 Abs. 2 der Charta
ist dahin auszulegen, dass
er dem nicht entgegensteht, dass die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, zum Zwecke ihrer strafrechtlichen Verfolgung im Vollstreckungsmitgliedstaat ausschließlich aus dem Grund aufgeschoben wird, dass diese Person nicht auf ihr Recht verzichtet hat, in dem im Vollstreckungsmitgliedstaat gegen sie geführten Strafverfahren persönlich vor Gericht zu erscheinen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 22. Juli 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. Juli 2022, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen
CJ
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Ferreira, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. September 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von CJ, vertreten durch A. M. V. Bandhoe, A. G. P. de Boon, J. S. Dobosz und P. M. Langereis, Advocaten,
- des Openbaar Ministerie, vertreten durch M. Diependaal, C. McGivern und K. van der Schaft,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. H. S. Gijzen und M. J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. Oktober 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2, Art. 12 und Art. 24 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584 oder Rahmenbeschluss) sowie der Art. 6, 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Zusammenhang mit der Vollstreckung in den Niederlanden eines Europäischen Haftbefehls, der am 31. August 2021 vom Sąd Okręgowy w Krakowie Wydział III Karny (Regionalgericht Kraków [Krakau], dritte Abteilung für Strafsachen, Polen) zur Vollstreckung einer gegen CJ verhängten Freiheitsstrafe ausges...