Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und Zusammenarbeit in Unterhaltssachen. Vollstreckung einer Entscheidung in einem Mitgliedstaat. Antragstellung unmittelbar bei der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats. Nationale Rechtsvorschriften, wonach die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu beteiligen ist
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 4/2009 Art. 41 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
1. Die Bestimmungen von Kapitel IV der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen und insbesondere ihr Art. 41 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass ein Unterhaltsberechtigter, der in einem Mitgliedstaat einen Titel erwirkt hat und dessen Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat begehrt, seinen Antrag unmittelbar bei der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats, etwa einem Fachgericht, stellen und nicht verpflichtet werden kann, seinen Antrag über die Zentrale Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats einzureichen.
2. Die Mitgliedstaaten sind gehalten, für die volle Wirksamkeit des in Art. 41 Abs. 1 der Verordnung Nr. 4/2009 vorgesehenen Rechts Sorge zu tragen, indem sie gegebenenfalls ihre Verfahrensvorschriften anpassen. Das nationale Gericht hat jedenfalls die Bestimmungen von Art. 41 Abs. 1 der Verordnung anzuwenden, indem es erforderlichenfalls entgegenstehende Vorschriften des nationalen Rechts unangewandt lässt, und muss somit einem Unterhaltsberechtigten die Möglichkeit geben, seinen Antrag unmittelbar bei der zuständigen Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats zu stellen, auch wenn dies im nationalen Recht nicht vorgesehen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom High Court of Justice (England & Wales), Family Division (Hoher Gerichtshof [England und Wales], Abteilung für Familiensachen, Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 11. April 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Mai 2016, in dem Verfahren
M. S.
gegen
P. S.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter A. Arabadjiev und C. G. Fernlund (Berichterstatter),
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von M. S., vertreten durch T. Scott, QC, und E. Bennet, Barrister, im Beistand von M. Barnes, Solicitor,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau M. S., die sich in Deutschland aufhält, und Herrn P. S., der sich im Vereinigten Königreich aufhält, wegen Unterhaltsforderungen.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 4/2009
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 9, 27, 31 und 32 der Verordnung Nr. 4/2009 heißt es:
„(9) Es sollte einem Unterhaltsberechtigten ohne Umstände möglich sein, in einem Mitgliedstaat eine Entscheidung zu erwirken, die automatisch in einem anderen Mitgliedstaat ohne weitere Formalitäten vollstreckbar ist.
…
(27) Ferner sollten die Formalitäten für die Vollstreckung, die Kosten zulasten des Unterhaltsberechtigten verursachen, so weit wie möglich reduziert werden. …
…
(31) Um die grenzüberschreitende Durchsetzung von Unterhaltsforderungen zu erleichtern, sollte ein System der Zusammenarbeit zwischen den von den Mitgliedstaaten benannten Zentralen Behörden eingerichtet werden. Diese Behörden sollten die berechtigten und die verpflichteten Personen darin unterstützen, ihre Rechte in einem anderen Mitgliedstaat geltend zu machen, indem sie die Anerkennung, Vollstreckbarerklärung und Vollstreckung bestehender Entscheidungen, die Änderung solcher Entscheidungen oder die Herbeiführung einer Entscheidung beantragen. Sie sollten ferner erforderlichenfalls Informationen austauschen, um die verpflichteten und die berechtigten Personen ausfindig zu machen und soweit erforderlich deren Einkünfte und Vermögen festzustellen. …
(32) … Das Kriterium für das Recht einer Person auf Unterstützung durch eine Zentrale Behörde sollte weniger streng sein als das Anknüpfungskriterium des ‚gewöhnlichen Aufenthalts’, das sonst in dieser Verordnung verwendet wird. Das Kriterium des ‚Au...