Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. In einem Mitgliedstaat wohnhafter Staatsangehöriger des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland. Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen im Wohnmitgliedstaat. Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft. Folgen des Austritts eines Mitgliedstaats aus der Union. Streichung in den Wahlverzeichnissen im Wohnmitgliedstaat- Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135
Normenkette
EUV Art. 9, 50; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 39-40; AEUV Art. 20, 22
Beteiligte
Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE) |
Tenor
1. Die Art. 9 und 50 EUV und die Art. 20 bis 22 AEUV in Verbindung mit dem am 17. Oktober 2019 angenommenen und am 1. Februar 2020 in Kraft getretenen Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft sind dahin auszulegen, dass die Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die vor Ende des Übergangszeitraums ihr Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat ausgeübt haben, seit dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union am 1. Februar 2020 nicht mehr den Unionsbürgerstatus und insbesondere das aktive und passive Wahlrecht bei den Kommunalwahlen in ihrem Wohnmitgliedstaat nach Art. 20 Abs. 2 Buchst. b und Art. 22 AEUV besitzen, und zwar auch dann nicht, wenn sie nach dem Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, auch das Wahlrecht bei den Wahlen in diesem Staat verloren haben.
2. Die Prüfung der dritten und der vierten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Beschlusses (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 über den Abschluss des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft berühren könnte.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal judiciaire d'Auch (Ordentliches Gericht Auch, Frankreich) mit Entscheidung vom 17. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Dezember 2020, in dem Verfahren
EP
gegen
Préfet du Gers,
Institut national de la statistique et des études économiques (INSEE),
Beteiligter:
Maire de Thoux,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und N. Jääskinen (Berichterstatter), der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer, der Richter F. Biltgen, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi und der Richter N. Wahl und D. Gratsias,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von EP, vertreten durch J. Fouchet und J.-N. Caubet-Hilloutou, Avocats,
- der französischen Regierung, vertreten durch A.-L. Desjonquères, D. Dubois und T. Stéhelin als Bevollmächtigte,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und A. Wellman als Bevollmächtigte,
- des Rates der Europäischen Union, vertreten durch J. Ciantar, R. Meyer und M. Bauer als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti, H. Krämer, C. Giolito und A. Spina als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Februar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 EUV, der Art. 18, 20 und 21 AEUV, der Art. 39 und 40 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), der Art. 2, 3, 10, 12 und 127 des am 17. Oktober 2019 angenommenen und am 1. Februar 2020 in Kraft getretenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (ABl. 2020, L 29, S. 7) (im Folgenden: Austrittsabkommen oder Abkommen) sowie die Gültigkeit dieses Abkommens.
Rz. 2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen EP, einer Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs, die seit 1984 in Frankreich wohnt, auf der einen Seite und dem Préfet du Gers (Präfekt des Departement Gers, Frankreich) und dem Institut national de la statistique et des études économique (Nationales Institut für Statistik und Wirtschaftsplanung, INSEE, Frankreich) auf der anderen Seite über die Streichung von EP in den Wählerverzeichnissen in Frankreich und die Ablehnung ihrer erneuten Eintragung in das betreffende zusätzliche Wählerverzeichnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
EU-Vertrag und AEU-Vertrag
Rz. 3
Art. 9 EUV bestimmt:
„… Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgersch...