Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen. Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Ausstehende Forderungen. Gerichtliche Entscheidungen. Mahnbescheide. Zustellung. Schuldner mit Wohnsitz an einer unbekannten Adresse in einem anderen Mitgliedstaat als dem des angerufenen Gerichts
Normenkette
AEUV Art. 20 Abs. 2 Buchst. a; Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 1 Abs. 1 Buchst. a, Art. 5 Abs. 1; Verordnung (EG) Nr. 1206/2001; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47 Abs. 2
Beteiligte
„Toplofikatsia Sofia” EAD |
„CHEZ Elektro Bulgaria” AD |
„Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia” EOOD |
Tenor
1. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er nicht auf eine Situation anwendbar ist, in der ein Gericht eines Mitgliedstaats die Anschrift in einem anderen Mitgliedstaat einer Person, der eine gerichtliche Entscheidung zuzustellen ist, zu ermitteln sucht.
2. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass es ihm nicht zuwiderläuft, dass ein Mahnbescheid gegen einen Schuldner vollstreckbar wird, und dass er nicht vorschreibt, einen solchen Bescheid außer Kraft zu setzen.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sofiyski Rayonen sad (Kreisgericht Sofia, Bulgarien) mit Entscheidungen vom 14. Mai 2020 (C-208/20) und vom 10. Juni 2020 (C-256/20), beim Gerichtshof eingegangen am 14. Mai 2020 und am 10. Juni 2020, in den Verfahren
”Toplofikatsia Sofia” EAD,
”CHEZ Elektro Bulgaria” AD,
”Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia” EOOD (C-208/20)
und
”Toplofikatsia Sofia” EAD (C-256/20)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der „Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia” EOOD, vertreten durch Y. B. Yanakiev,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 Buchst. a AEUV in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen (ABl. 2001, L 174, S. 1) und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen in der Rechtssache C-208/20 der „Toplofikatsia Sofia” EAD, der „CHEZ Elektro Bulgaria” AD und der „Agentsia za control na prosrocheni zadalzhenia” EOOD sowie in der Rechtssache C-256/20 der Toplofikatsia Sofia und jeweils natürlichen Personen, die nicht am Verfahren beteiligt sind, wegen der Beitreibung ausstehender Forderungen.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung Nr. 1206/2001
Rz. 3
Art. 1 der Verordnung Nr. 1206/2001 sieht vor:
„(1) Diese Verordnung ist in Zivil- oder Handelssachen anzuwenden, wenn das Gericht eines Mitgliedstaats nach seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften
- das zuständige Gericht eines anderen Mitgliedstaats um Beweisaufnahme ersucht … oder
- darum ersucht, in einem anderen Mitgliedstaat unmittelbar Beweis erheben zu dürfen.
(2) Um Beweisaufnahme darf nicht ersucht werden, wenn die Beweise nicht zur Verwendung in einem bereits eingeleiteten oder zu eröffnenden gerichtlichen Verfahren bestimmt sind.
…”
Rz. 4
In Art. 4 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung heißt es:
„Das Ersuchen wird unter Verwendung des im Anhang enthaltenen Formblattes A oder gegebenenfalls des Formblattes I gestellt. Es enthält folgende Angaben:
…
b) den Namen und die Anschrift der Parteien und gegebenenfalls ihrer Vertreter”.
Verordnung Nr. 1215/2012
Rz. 5
Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:
„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssac...