Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz. Begriff ‚Familienangehöriger’. Volljähriger, der aufgrund seiner familiären Bindung zu einem Minderjährigen, dem bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, internationalen Schutz beantragt. Für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgebender Zeitpunkt
Normenkette
EURL 95/2011 Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass in einer Situation, in der ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, und der aus dem subsidiären Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, einen Anspruch auf Asyl gemäß den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats – wonach die unter Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 fallenden Personen einen solchen Anspruch haben – ableiten will, bei der Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz für die Frage, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig” im Sinne dieser Bestimmung ist, auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der Antragsteller – gegebenenfalls formlos – seinen Asylantrag eingereicht hat.
2. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Familienangehöriger” keine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen dem Elternteil der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und seinem Kind verlangt.
3. Art. 2 Buchst. j dritter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit ihrem Art. 23 Abs. 2 ist dahin auszulegen, dass die Rechte, über die die Familienangehörigen einer Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, aufgrund des ihrem Kind zustehenden subsidiären Schutzstatus verfügen, und insbesondere die in den Art. 24 bis 35 der Richtlinie genannten Leistungen nach Eintritt der Volljährigkeit der betreffenden Person für die Geltungsdauer des ihnen gemäß Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie erteilten Aufenthaltstitels fortbestehen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 15. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Oktober 2019, in dem Verfahren
Bundesrepublik Deutschland
gegen
SE,
Beteiligter:
Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter N. Wahl und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch A. Schumacher als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch K. Szíjjártó und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, M. Condou-Durande, K. Kaiser und C. Ladenburger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. März 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen SE, einem afghanischen Staatsangehörigen, und der Bundesrepublik Deutschland wegen der Weigerung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland), ihm die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zum Zweck der Familienzusammenführung mit seinem Sohn zuzuerkennen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2011/95
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 12, 16, 18, 19 und 38 der Richtlinie 2011/95 heißt es:
„(12) Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Sc...