Entscheidungsstichwort (Thema)
Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2001/220/JI. Stellung des Opfers im Strafverfahren. Privatkläger, der an die Stelle des Staatsanwalts tritt. Aussage des Opfers als Zeuge
Beteiligte
Tenor
Die Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie ein nationales Gericht nicht dazu verpflichten, dem Opfer einer Straftat im Rahmen eines Ersatzprivatklageverfahrens wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu gestatten, als Zeuge gehört zu werden. Besteht eine solche Möglichkeit nicht, muss es dem Opfer aber gestattet werden können, eine Aussage zu machen, die als Beweismittel berücksichtigt werden kann.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 35 EU, eingereicht vom Fővárosi Bíróság (Ungarn) mit Entscheidung vom 6. Juli 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 27. August 2007, in dem Strafverfahren
Győrgy Katz
gegen
István Roland Sós
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas sowie der Richter J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) und J. Klučka, der Richterin P. Lindh und des Richters A. Arabadjiev,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juni 2008,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Katz, vertreten durch L. Kiss, ügyvéd,
- von Herrn Sós, vertreten durch L. Helmeczy, ügyvéd,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch J. Fazekas, R. Somssich und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl als Bevollmächtigten,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Troosters und B. Simon als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. Juli 2008
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2001/220/JI des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (ABl. L 82, S. 1, im Folgenden: Rahmenbeschluss).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Sós, der von Herrn Katz als Ersatzprivatkläger wegen Betrugs strafrechtlich verfolgt wird.
Rechtlicher Rahmen
Das Recht der Europäischen Union
Rz. 3
Im vierten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt es:
„Die Mitgliedstaaten sollten ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften angleichen, soweit dies für die Erreichung des Ziels erforderlich ist, um Opfern von Straftaten unabhängig davon, in welchem Land sie sich aufhalten, ein hohes Schutzniveau zu bieten.”
Rz. 4
Nach Art. 1 des Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck „Opfer” im Sinne dieses Beschlusses:
- „… eine natürliche Person, die einen Schaden, insbesondere eine Beeinträchtigung ihrer körperlichen oder geistigen Unversehrtheit, seelisches Leid oder einen wirtschaftlichen Verlust als direkte Folge von Handlungen oder Unterlassungen erlitten hat, die einen Verstoß gegen das Strafrecht eines Mitgliedstaats darstellen”.
Rz. 5
Art. 2 des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass in ihren Strafrechtssystemen Opfern tatsächlich und angemessen Rechnung getragen wird. Sie bemühen sich weiterhin nach Kräften, um zu gewährleisten, dass das Opfer während des Verfahrens mit der gebührenden Achtung seiner persönlichen Würde behandelt wird, und erkennen die Rechte und berechtigten Interessen des Opfers insbesondere im Rahmen des Strafverfahrens an.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass besonders gefährdete Opfer eine ihrer Situation am besten entsprechende spezifische Behandlung erfahren.”
Rz. 6
Art. 3 des Rahmenbeschlusses sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass das Opfer im Verfahren gehört werden und Beweismaterial liefern kann.
Die Mitgliedstaaten ergreifen die gebotenen Maßnahmen, damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen.”
Rz. 7
Art. 5 des Rahmenbeschlusses lautet:
„Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, damit die Kommunikationsschwierigkeiten, die das Verständnis des als Zeuge oder Partei auftretenden Opfers für die wichtigen Phasen des betreffenden Strafverfahrens und seine Beteiligung daran beeinträchtigen, so gering wie möglich sind; sie treffen dabei Maßnahmen, wie sie vergleichbar für die Beschuldigten ergriffen werden.”
Rz. 8
Art. 7 des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten bieten Opfern, die Zeuge oder Partei sind, nach den geltenden einzelstaatlichen Vorschriften die Möglichkeit, sich Ausgaben, die ihnen aufgrund ihrer rechtmäßigen Beteiligung am Strafverfahren entstanden sind, erstatten zu lassen.”
Rz. 9
Laut der am 14. Dezember 2005 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Unterrichtung über die Erklärungen der Französischen Republik und der Republik Ungarn zur ...