Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsmittel. Wettbewerb. Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen. Einrede der Rechtswidrigkeit. Pflicht zur vorherigen Anmeldung von Zusammenschlüssen. Pflicht zum Aufschub des Vollzugs von Zusammenschlüssen. Anwendungsbereich. Begriff ‚Vollzug‘ eines Zusammenschlusses. Beschluss, mit dem Geldbußen verhängt werden, weil ein Zusammenschluss vor seiner Anmeldung und Genehmigung vollzogen wurde. Begründungspflicht. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 139/2004 Art. 4 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1, Art. 14 Abs. 2
Beteiligte
Altice Group Lux/ Kommission |
Tenor
1.Nr. 1 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 22. September 2021, Altice Europe/Kommission (T-425/18, EU:T:2021:607), wird aufgehoben.
2.Nr. 2 des Tenors des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 22. September 2021, Altice Europe/Kommission (T-425/18, EU:T:2021:607), wird aufgehoben, soweit der Antrag auf Nichtigerklärung von Art. 4 des Beschlusses C(2018) 2418 final der Kommission vom 24. April 2018 zur Verhängung einer Geldbuße wegen des Vollzugs eines Zusammenschlusses unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 (Sache M.7993 – Altice/PT Portugal) zurückgewiesen wurde.
3.Im Übrigen wird das Rechtsmittel zurückgewiesen.
4.Art. 4 des Beschlusses C(2018) 2418 final wird für nichtig erklärt.
5.Die gegen die Altice Group Lux Sàrl wegen der in Art. 2 des Beschlusses C(2018) 2418 final festgestellten Zuwiderhandlung verhängte Geldbuße wird auf 52 912 500 Euro festgesetzt.
6.Altice trägt neben ihren eigenen Kosten fünf Sechstel der Kosten, die der Europäischen Kommission im ersten Rechtszug und im Rechtsmittelverfahren entstanden sind.
7.Die Europäische Kommission trägt ein Sechstel ihrer eigenen im ersten Rechtszug und im Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.
8.Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen im ersten Rechtszug und im Rechtsmittelverfahren entstandenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache C-746/21 P
betreffend ein Rechtsmittel nach Art. 56 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, eingelegt am 2. Dezember 2021,
Altice Group Lux Sàrl,ehemals New Altice Europe BV, in Liquidation, vertreten durch R. Allendesalazar Corcho und H. Brokelmann, Abogados,
Klägerin,
andere Verfahrensbeteiligte:
Europäische Kommission,vertreten zunächst durch M. Domecq, M. Farley und F. Jimeno Fernández, dann durch M. Domecq und M. Farley als Bevollmächtigte,
Beklagte im ersten Rechtszug,
Rat der Europäischen Union, vertreten durch A.-L. Meyer und O. Segnana als Bevollmächtigte,
Streithelfer im ersten Rechtszug,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter N. Piçarra, M. Safjan, N. Jääskinen und M. Gavalec
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Februar 2023,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. April 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Altice Group Lux Sàrl, ehemals New Altice Europe BV, in Liquidation (im Folgenden: Altice) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 22. September 2021, Altice Europe/Kommission (T-425/18, im Folgenden: angefochtenes Urteil, EU:T:2021:607), mit dem das Gericht die gegen Altice durch Art. 4 des Beschlusses C(2018) 2418 final der Kommission vom 24. April 2018 zur Verhängung einer Geldbuße wegen des Vollzugs eines Zusammenschlusses unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 (Sache M.7993 – Altice/PT Portugal) (im Folgenden: streitiger Beschluss) verhängte Geldbuße auf 56 025 000 Euro festgesetzt und die Klage im Übrigen abgewiesen hat.
Rechtlicher Rahmen
Verordnung(EG)Nr.139/2004
Rz. 2
Die Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. 1989, L 395, S.1) wurde mit Wirkung vom 1. Mai 2004 durch die Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“) (ABl. 2004, L 24, S. 1) aufgehoben. In Anbetracht des Zeitraums, in den das Verhalten fällt, auf das sich der streitige Beschluss bezieht, ist die letztgenannte Verordnung zeitlich anwendbar.
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 5, 6, 8, 20 und 34 der Verordnung Nr. 139/2004 heißt es:
„(5) Allerdings ist zu gewährleisten, dass der Umstrukturierungsprozess nicht eine dauerhafte Schädigung des Wettbewerbs verursacht. Das Gemeinschaftsrecht muss deshalb Vorschriften für solche Zusammenschlüsse enthalten, die geeignet sind, wirksamen Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich zu beeinträchtigen.
(6) Daher ist ein besonderes Rechtsinstrument erforderlich, das eine wirksame Kontrolle sämtlicher ...