Entscheidungsstichwort (Thema)
Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Freizügigkeit von Arbeitnehmern. Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats. Ausweisung eines verurteilten türkischen Arbeitnehmers. Ausweisung aus generalpräventiven Gründen
Normenkette
Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates; Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates
Beteiligte
Verfahrensgang
Tenor
1.
Ein türkischer Arbeitnehmer, der länger als vier Jahre ununterbrochen eine ordnungsgemäße Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ausgeübt hat, aber anschließend länger als ein Jahr wegen einer Straftat in Untersuchungshaft gehalten wurde, für die er später rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung insgesamt zur Bewährung ausgesetzt wurde, hat nicht wegen der fehlenden Ausübung einer Beschäftigung während seiner Untersuchungshaft aufgehört, dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats anzugehören, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach seiner Haftentlassung wieder eine Beschäftigung findet. Er hat dort Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiterhin sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis gemäß Artikel 6 Absatz 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 des durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation ausüben zu können.
2.
Artikel 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist dahin auszulegen, daß er der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein unmittelbar durch diesen Beschluß gewährtes Recht innehat, entgegensteht, wenn diese Maßnahme aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Abschreckung anderer Ausländer verfügt wird, ohne daß das persönliche Verhalten des Betroffenen konkreten Anlaß zu der Annahme gibt, daß er weitere schwere Straftaten begehen wird, die die öffentliche Ordnung im Aufnahmemitgliedstaat stören könnten.
Gründe
1.
Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach hat mit Beschluß vom 7. Juli 1997, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Oktober 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 6 Absatz 1 und 14 Absatz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (im folgenden: Beschluß Nr. 1/80) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluß 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685; im folgenden: Assoziierungsabkommen) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
2.
Diese Fragen stellen sich im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Nazli (im folgenden: Kläger) und seinen beiden minderjährigen Kindern, für die er das Sorgerecht hat und die wie auch er selbst türkische Staatsangehörige sind, und der Stadt Nürnberg wegen eines Bescheides, mit dem die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis des Klägers in Deutschland abgelehnt und dessen Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verfügt wurde.
Beschluß Nr. 1/80
3.
Die Artikel 6 und 14 des Beschlusses Nr. 1/80 stehen in dessen Kapitel II (Soziale Bestimmungen) Abschnitt 1 (Fragen betreffend die Beschäftigung und Freizügigkeit der Arbeitnehmer).
4.
Artikel 6 Absatz 1 lautet:
Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- • nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
- • nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
- • nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
5.
Artikel 14 Absatz 1 bestimmt:
Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der ö...