Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Einwanderungspolitik. Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung. Unmittelbare Wirkung. Spezielle Hafteinrichtung. Begriff. Inhaftierung in einer gewöhnlichen Haftanstalt. Voraussetzungen. Notlage. Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz
Normenkette
Richtlinie 2008/115/EG Art. 16 Abs. 1, Art. 18; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Tenor
1. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass eine spezielle Abteilung einer Justizvollzugsanstalt, die zum einen, obwohl sie über einen eigenen Leiter verfügt, der Leitung der Anstalt untersteht und der Aufsicht des für Justizvollzugsanstalten zuständigen Ministeriums unterliegt, und in der zum anderen in speziellen Gebäuden, die über eine eigene Ausstattung verfügen und von den übrigen Gebäuden der Einrichtung, in denen Strafgefangene inhaftiert sind, getrennt sind, Drittstaatsangehörige in Abschiebehaft gehalten werden, als „spezielle Hafteinrichtung” im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden kann, sofern die Bedingungen der Unterbringung dieser Drittstaatsangehörigen so weit wie möglich verhindern, dass diese Unterbringung einer Inhaftierung in einer Gefängnisumgebung gleichkommt, und sie so ausgestaltet sind, dass sowohl die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechte als auch die in Art. 16 Abs. 2 bis 5 und Art. 17 der Richtlinie verankerten Rechte beachtet werden.
2. Art. 18 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeiten über die Anordnung der Inhaftnahme oder die Haftverlängerung eines Drittstaatsangehörigen für die Zwecke der Abschiebung in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu entscheiden hat, prüfen können muss, ob die Voraussetzungen eingehalten sind, unter die Art. 18 die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat stellt, diesen Drittstaatsangehörigen in einer gewöhnlichen Haftanstalt zu inhaftieren.
3. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die es erlauben, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige für ihre Abschiebung getrennt von Strafgefangenen vorübergehend in gewöhnlichen Haftanstalten unterzubringen, unangewendet lassen muss, wenn die Voraussetzungen, die Art. 18 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie für die Vereinbarkeit solcher Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht aufstellen, nicht oder nicht mehr erfüllt sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Hannover (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. Oktober 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2020, in dem Verfahren gegen
K,
Beteiligter:
Landkreis Gifhorn,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan, der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe in Wahrnehmung der Aufgaben einer Richterin der Fünften Kammer, des Präsidenten der Vierten Kammer C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter I. Jarukaitis und M. Ilešič,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. September 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von K, vertreten durch Rechtsanwalt P. Fahlbusch und Rechtsanwältin B. Böhlo,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und H. Leupold als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. November 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 16 Abs. 1 und Art. 18 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Abschiebungsverfahrens gegen K über die Rechtmäßigkeit seiner Inhaftnahme in der Justizvollzugsanstalt Hannover, Abteilung Langenhagen (Deutschland).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 3, 13 und 16 der Richtlinie 2008/115 heißt es:
„(3) Das Ministerkomitee des Europarates hat am 4. Mai 2005 ‚20 Leitlinien zur Frage der erzwungenen Rückkehr’ angenommen.
…
(13) Der Rückgriff auf Zwangsmaßnahmen sollte im Hinblick auf die eingesetzten Mittel und die angestrebten Ziele ausdrücklich den Grundsätzen der Verhältnis...