Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbarkeit, Geschäftsveräußerung im Ganzen, Veräußerung eines Sportartikelladens und Vermietung des Ladenlokals
Leitsatz (amtlich)
Art. 5 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass die Übereignung des Warenbestands und der Geschäftsausstattung eines Einzelhandelsgeschäfts unter gleichzeitiger Vermietung des Ladenlokals an den Erwerber auf unbestimmte Zeit, allerdings aufgrund eines von beiden Parteien kurzfristig kündbaren Vertrags, eine Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens im Sinne dieser Bestimmung darstellt, sofern die übertragenen Sachen hinreichen, damit der Erwerber eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit dauerhaft fortführen kann.
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 5 Abs. 8
Beteiligte
Nachgehend
Tatbestand
„Mehrwertsteuer ‐ Sechste Richtlinie ‐ Art. 5 Abs. 8 ‐ Begriff der ‚Übertragung eines Gesamt- oder Teilvermögens‘ ‐ Übereignung des Warenbestands und der Geschäftsausstattung unter gleichzeitiger Vermietung des Geschäftslokals“
In der Rechtssache C-444/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 15. September 2010, in dem Verfahren
Finanzamt Lüdenscheid
gegen
Christel Schriever
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues sowie der Richter U. Lõhmus (Berichterstatter), A. Rosas, A. Ó Caoimh und A. Arabadjiev,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ des Finanzamts Lüdenscheid, vertreten durch H. Selle als Bevollmächtigten,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ‐ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Revisionsverfahrens zwischen dem Finanzamt Lüdenscheid (im Folgenden: Finanzamt) und Frau Schriever über einen Umsatzsteueränderungsbescheid, mit dem das Finanzamt die Übertragung des Warenbestands und der Ladeneinrichtung durch Frau Schriever als mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz eingestuft hat.
Rechtlicher Rahmen
Sechste Richtlinie
Rz. 3
Nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt.
Rz. 4
Nach Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gilt als „Lieferung eines Gegenstands“ die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
Rz. 5
Art. 5 Abs. 8 dieser Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten können die Übertragung des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens, die entgeltlich oder unentgeltlich oder durch Einbringung in eine Gesellschaft erfolgt, so behandeln, als ob keine Lieferung von Gegenständen vorliegt und den Begünstigten der Übertragung als Rechtsnachfolger des Übertragenden ansehen. Die Mitgliedstaaten treffen gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen, um Wettbewerbsverzerrungen für den Fall zu vermeiden, dass der Begünstigte nicht voll steuerpflichtig ist.“
Rz. 6
Gemäß Art. 6 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie gilt ihr Art. 5 Abs. 8 „unter den gleichen Voraussetzungen für Dienstleistungen“.
Nationales Recht
Rz. 7
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes 1993 (BGBl. 1993 I, S. 565, im Folgenden: UStG) unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt.
Rz. 8
Art. 1 Abs. 1a UStG, mit dem die Art. 5 Abs. 8 und 6 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie in das nationale Recht umgesetzt worden sind, bestimmt:
„Die Umsätze im Rahmen einer Geschäftsveräußerung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen unterliegen nicht der Umsatzsteuer. Eine Geschäftsveräußerung liegt vor, wenn ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb im Ganzen entgeltlich oder unentgeltlich übereignet oder in eine Gesellschaft eingebracht wird. Der erwerbende Unternehmer tritt an die Stelle des Veräußerers.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 9
Frau Schriever betrieb bis zum 30. Juni 1996 in ihr ...