Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Anwendbarkeit. Verhängung einer Geldstrafe gegen eine juristische Person wegen der Nichtzahlung von Steuerschulden. Begriff ‚Einziehung’. Sanktionen strafrechtlicher Natur. Grundsätze der Unschuldsvermutung, der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen. Verteidigungsrechte. Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion gegen eine juristische Person wegen einer vom Vertreter dieser juristischen Person begangenen Straftat. Nicht abgeschlossenes paralleles Strafverfahren gegen diesen Vertreter. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
Rahmenbeschluss 2005/212/JI; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 48-49, 52
Beteiligte
Tenor
Art. 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein nationales Gericht gegen eine juristische Person eine strafrechtliche Sanktion wegen einer Straftat verhängen kann, für die eine natürliche Person, die befugt ist, diese juristische Person zu verpflichten oder zu vertreten, verantwortlich sein soll, wenn dieser juristischen Person keine Gelegenheit gegeben wurde, das Vorliegen dieser Straftat zu bestreiten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okrazhen sad – Burgas (Regionalgericht Burgas, Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 31. März 2021, in dem Strafverfahren gegen
DELTA STROY 2003,
Beteiligte:
Okrazhna prokuratura – Burgas,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.-C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. Juni 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses 2005/212/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Einziehung von Erträgen, Tatwerkzeugen und Vermögensgegenständen aus Straftaten (ABl. 2005, L 68, S. 49) sowie von Art. 49 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens gegen die DELTA STROY 2003 EOOD (im Folgenden: Delta Stroy) zur Verhängung einer Geldstrafe gegen dieses Unternehmen wegen einer ihrer Geschäftsführerin und Vertreterin zur Last gelegten Straftat im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuer.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2005/212
Rz. 3
Art. 1 („Begriffsbestimmungen”) des Rahmenbeschlusses 2005/212 sieht vor:
„Im Sinne dieses Rahmenbeschlusses bezeichnet der Ausdruck
- ‚Ertrag’ jeden wirtschaftlichen Vorteil, der durch Straftaten erlangt wird. Dieser Vorteil kann aus Vermögensgegenständen aller Art gemäß der Begriffsbestimmung unter dem folgenden Gedankenstrich bestehen;
- ‚Vermögensgegenstände’ Vermögensgegenstände jeder Art, körperliche oder nichtkörperliche, bewegliche oder unbewegliche, sowie rechtserhebliche Schriftstücke oder Urkunden, die das Recht auf solche Vermögensgegenstände oder Rechte daran belegen;
- ‚Tatwerkzeuge’ alle Gegenstände, die in irgendeiner Weise ganz oder teilweise zur Begehung einer oder mehrerer Straftaten verwendet werden oder verwendet werden sollen;
- ‚Einziehung’ eine Strafe oder Maßnahme, die von einem Gericht im Anschluss an ein eine Straftat oder mehrere Straftaten betreffendes Verfahren angeordnet wurde und die zur endgültigen Einziehung von Vermögensgegenständen führt;
…”
Rz. 4
Art. 2 („Einziehung”) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:
„(1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Tatwerkzeuge und Erträge aus Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sind, oder Vermögensgegenstände, deren Wert diesen Erträgen entspricht, ganz oder teilweise eingezogen werden können.
(2) In Verbindung mit Steuerstraftaten können die Mitgliedstaaten andere Verfahren als Strafverfahren anwenden, um den Tätern die Erträge aus der Straftat zu entziehen.”
Rz. 5
Art. 4 („Rechtsmittel”) des Rahmenbeschlusses lautet:
„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass alle von den Maßnahmen nach den Artikeln 2 und 3 betroffenen Parteien über wirksame Rechtsmittel zur Wahrung ihrer Rechte verfügen.”
Rz. 6
Art. 5 („Garantien”) des Rahmenbeschlusses bestimmt:
„Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, einschließlich insbesondere der Unschuldsvermutung, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.”
Rahmenbeschluss ...