Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Gemeinsames Europäisches Asylsystem. Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats. Kontrolle der Einhaltung der Kriterien, nach denen sich die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrags richtet. Umfang der gerichtlichen Kontrolle
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 343/2003
Beteiligte
Tenor
Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat der Aufnahme eines Asylbewerbers nach Maßgabe des in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung niedergelegten Kriteriums zugestimmt hat, d. h. als der Mitgliedstaat der ersten Einreise des Asylbewerbers in das Gebiet der Europäischen Union, der Asylbewerber der Heranziehung dieses Kriteriums nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Asylgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 21. August 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 27. August 2012, in dem Verfahren
Shamso Abdullahi
gegen
Bundesasylamt
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten T. von Danwitz, E. Juhász, A. Borg Barthet, C. G. Fernlund und J. L. da Cruz Vilaça, der Richter A. Rosas (Berichterstatter), G. Arestis und J. Malenovský, der Richterin A. Prechal sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. Vajda,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Mai 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Abdullahi, vertreten durch die Rechtsanwälte E. Daigneault und R. Seidler,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der griechischen Regierung, vertreten durch G. Papagianni, L. Kotroni und M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch S. Menez als Bevollmächtigten,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér, G. Koós und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Beeko als Bevollmächtigte im Beistand von S. Lee, Barrister,
- der schweizerischen Regierung, vertreten durch D. Klingele als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Bogensberger und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 10, 16, 18 und 19 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Abdullahi, einer somalischen Staatsangehörigen, und dem Bundesasylamt wegen der Frage, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig ist, den Frau Abdullahi beim Bundesasylamt gestellt hat.
Rechtlicher Rahmen
Genfer Flüchtlingskonvention
Rz. 3
Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954], im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde ergänzt durch das am 4. Oktober 1967 in Kraft getretene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (im Folgenden: Protokoll von 1967).
Rz. 4
Alle Mitgliedstaaten sowie die Republik Island, das Fürstentum Liechtenstein, das Königreich Norwegen und die Schweizerische Eidgenossenschaft sind Vertragsparteien der Genfer Flüchtlingskonvention und des Protokolls von 1967. Die Europäische Union ist weder Vertragspartei der Genfer Flüchtlingskonvention noch des Protokolls von 1967, aber die Art. 78 AEUV und 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sehen vor, dass das Recht auf Asyl u. a. nach Maßgabe dieser Konvention und dies...