Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff ‚Zivil- und Handelssache’. Rechtsgrundlos geleistete Zahlung einer staatlichen Stelle. Rückforderung der Zahlung in einem Gerichtsverfahren. Bestimmung der gerichtlichen Zuständigkeit im Fall der Konnexität. Enger Zusammenhang zwischen den Klagen. Beklagter mit Wohnsitz in einem Drittstaat
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 44/2001 Art. 1 Abs. 1, Art. 6 Nr. 1
Beteiligte
Tenor
1. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Zivil- und Handelssache” eine Klage auf Erstattung einer ohne Rechtsgrund geleisteten Zahlung umfasst, wenn eine öffentliche Stelle durch eine Behörde, die durch ein Gesetz zur Wiedergutmachung von Verfolgungen seitens eines totalitären Regimes geschaffen wurde, angewiesen worden ist, einem Geschädigten zur Wiedergutmachung einen Teil des Erlöses aus einem Grundstückskaufvertrag auszuzahlen, stattdessen aber versehentlich den gesamten Kaufpreis an diese Person überwiesen hat und anschließend die ohne Rechtsgrund geleistete Zahlung gerichtlich zurückfordert.
2. Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass zwischen den Klagen gegen mehrere Beklagte, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten haben, eine enge Beziehung im Sinne dieser Bestimmung besteht, wenn sich diese Beklagten unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens auf weiter gehende Wiedergutmachungsansprüche berufen, über die einheitlich entschieden werden muss.
3. Art. 6 Nr. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass er auf Beklagte, die ihren Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben und die im Rahmen einer gegen mehrere Beklagte, zu denen auch Personen mit Wohnsitz in der Union gehören, gerichteten Klage verklagt werden, nicht anwendbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. November 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Dezember 2011, in dem Verfahren
Land Berlin
gegen
Ellen Mirjam Sapir,
Michael J. Busse,
Mirjam M. Birgansky,
Gideon Rumney,
Benjamin Ben-Zadok,
Hedda Brown
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter E. Jarašiūnas und A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters C. G. Fernlund,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch K. Petersen als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes und S. Nunes de Almeida als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 28. November 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits des Landes Berlin gegen Frau Sapir, Herrn Busse, Frau Birgansky, Herrn Rumney, Herrn Ben-Zadok, Frau Brown und fünf weitere Personen wegen der Erstattung eines Betrags, der im Anschluss an ein Verwaltungsverfahren, das der Wiedergutmachung des bei Verfolgungen durch das NS-Regime aufgrund des Verlusts eines Grundstücks entstandenen Schadens diente, irrtümlich zu viel gezahlt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 44/2001
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 7 bis 9 und 11 der Verordnung Nr. 44/2001 lauten:
„(7) Der sachliche Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich, von einigen genau festgelegten Rechtsgebieten abgesehen, auf den wesentlichen Teil des Zivil- und Handelsrechts erstrecken.
(8) Rechtsstreitigkeiten, die unter diese Verordnung fallen, müssen einen Anknüpfungspunkt an das Hoheitsgebiet eines der Mitgliedstaaten aufweisen, die durch diese Verordnung gebunden sind. Gemeinsame Zuständigkeitsvorschriften sollten demnach grundsätzlich dann Anwendung finden, wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einem dieser Mitgliedstaaten hat.
(9) Beklagte ohne Wohnsitz in einem Mitgliedstaat unterliegen im Allgemeinen den nationalen Zuständigkeitsvorschriften, die im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats gelten, in dem sich das angerufene Gericht befindet, während Beklagte mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, der durch diese Verordnung nicht gebunden ist, weiterhin dem [Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und...