Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen. Vom ersuchten Mitgliedstaat beigetriebene Steuerforderung des ersuchenden Mitgliedstaats. Art dieser Forderung. Begriff ‚Vorrecht’. Gesetzliche Aufrechnung zwischen dieser Forderung und einer Steuerschuld des ersuchten Mitgliedstaats
Normenkette
Richtlinie 76/308/EWG Art. 6 Abs. 2; Richtlinie 2008/55/EG Art. 10, 6 Abs. 2; Richtlinie 76/308/EWG Art. 10
Beteiligte
Tenor
1. Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 76/308/EWG des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen und Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2008/55/EG des Rates vom 26. Mai 2008 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen sind dahin auszulegen, dass die Forderung des ersuchenden Mitgliedstaats einer Forderung des ersuchten Mitgliedstaats nicht gleichgestellt wird und nicht die Eigenschaft einer Forderung des letztgenannten Mitgliedstaats erhält.
2. Art. 10 der Richtlinie 76/308 und Art. 10 der Richtlinie 2008/55 sind wie folgt auszulegen:
- Der in diesen Bestimmungen genannte Begriff „Vorrecht” bezieht sich auf jeden Mechanismus, der beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen zur vorrangigen Befriedigung einer Forderung führt.
- Die Befugnis des ersuchten Mitgliedstaats, beim Zusammentreffen mit anderen Forderungen eine Aufrechnung vorzunehmen, stellt ein Vorrecht im Sinne dieser Bestimmungen dar, wenn der Rückgriff auf diese Möglichkeit bewirkt, dass dem ersuchten Mitgliedstaat im Verhältnis zu den übrigen Gläubigern ein Vorzugsrecht oder ein Vorrang bei der Befriedigung seiner Forderungen zusteht; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidung vom 20. Dezember 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2019, in dem Verfahren
État belge
gegen
Pantochim SA, in Liquidation,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin), der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Pantochim SA, in Liquidation, vertreten durch J. Oosterbosch, avocate,
- der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch A. Rubio González, dann durch S. Jiménez García als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin, J. Jokubauskaitė und C. Perrin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 und Art. 10 der Richtlinie 76/308/EWG des Rates vom 15. März 1976 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen im Zusammenhang mit Maßnahmen, die Bestandteil des Finanzierungssystems des Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft sind, sowie von Abschöpfungen und Zöllen (ABl. 1976, L 73, S. 18) sowie von Art. 6 Abs. 2 und Art 10 der Richtlinie 2008/55/EG des Rates vom 26. Mai 2008 über die gegenseitige Unterstützung bei der Beitreibung von Forderungen in Bezug auf bestimmte Abgaben, Zölle, Steuern und sonstige Maßnahmen (ABl. 2008, L 150, S. 28).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem belgischen Staat und der Pantochim SA, in Liquidation, über eine Aufrechnung von deren Forderung gegen diesen Mitgliedstaat mit ihrer Schuld gegenüber dem deutschen Staat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 76/308
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1 bis 3 und 8 der Richtlinie 76/308 lauteten:
„Gegenwärtig kann eine Forderung, für die von den Behörden eines Mitgliedstaats ein Titel ausgestellt worden ist, in einem anderen Mitgliedstaat nicht beigetrieben werden.
Die einzelstaatlichen Bestimmungen auf dem Gebiet der Beitreibung stellen schon wegen ihres auf das jeweilige Hoheitsgebiet begrenzten Anwendungsbereichs ein Hindernis für die Errichtung sowie eine Beeinträchtigung des Funktionierens des Gemeinsamen Marktes dar. Dies bedeutet, dass die Gemeinschaftsvorschriften insbesondere für den Bereich der gemeinsamen Agrarpolitik nicht vollständig und gleichmäßig angewandt werden können, wodurch betrügerischen Praktiken Vorschub geleistet wird.
Es erscheint infolgedessen erforderlich, gemeinschaftliche Regeln zur gegenseitigen Unterstützung be...