Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerwesen. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Steuerbare Lieferung von Gegenständen. Übertragung des Eigentums an einer landwirtschaftlichen Fläche gegen Zahlung einer Entschädigung aufgrund einer behördlichen Entscheidung. Enteignung”
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, Art. 14 Abs. 2 Buchst. a
Beteiligte
Dyrektor Krajowej informacji Skarbowej |
Verfahrensgang
Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) (Beschluss vom 18.01.2023; ABl. EU 2023, Nr. C 252/14) |
Tenor
Art. 2 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
eine Übertragung des Eigentums an landwirtschaftlichen Grundstücken im Wege der Enteignung gegen Zahlung einer Entschädigung an den Eigentümer dieser Grundstücke der Mehrwertsteuer unterliegen muss, wenn dieser Eigentümer ein mehrwertsteuerpflichtiger Landwirt ist, der als solcher handelt, auch wenn er keine Tätigkeit im Immobilienhandel ausübt und nichts unternommen hat, was auf eine solche Eigentumsübertragung abzielen würde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 18. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 22. März 2023, in dem Verfahren
Dyrektor Krajowej informacji Skarbowej
gegen
J. S.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra sowie der Richter N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej, vertreten durch B. Kołodziej und T. Wojciechowski,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Herold und M. Owsiany-Hornung als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen J. S. und dem Dyrektor Krajowej Informacji Skarbowej (Direktor der nationalen Steuerinformationsbehörde, Polen) (im Folgenden: Steuerbehörde) wegen eines Antrags auf Aufhebung eines Steuervorbescheids vom 31. Oktober 2017 (im Folgenden: Steuervorbescheid).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer.
Rz. 4
Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Als ‚Steuerpflichtiger’ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit’ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.”
Rz. 5
Art. 14 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„(1) Als ‚Lieferung von Gegenständen’ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.
(2) Neben dem in Absatz 1 genannten Umsatz gelten folgende Umsätze als Lieferung von Gegenständen:
a) die Übertragung des Eigentums an einem Gegenstand gegen Zahlung einer Entschädigung auf Grund einer behördlichen Anordnung oder kraft Gesetzes;
…”
Rz. 6
Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet wie folgt:
„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”
Polnisches Recht
Rz. 7
Art. 7 Abs. 1 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. 2022, Pos. 931) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:
„Als Lieferung von Gegenständen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Nr. 1 gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über die Gegenstände zu verfügen, darunter auch:
1) die Übertragung des Eigentums an Gegenständen gegen Zahlung einer Entschädigung auf Anordnung einer Behörde oder eines in deren Namen handelnden Rechtssubjekts oder kraft Gesetzes;
…”
Rz. 8
In Art. 15 Abs. 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzes heißt es:
„1) Steuerpflichtig sind juristische Personen, Organisationseinheiten ohne Rechtspersönlic...