Entscheidungsstichwort (Thema)
Sonderausgabenabzug, Schulgeld für den Besuch von Schulen in anderen Mitgliedstaaten, Vertragsverletzungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 18 EG, 39 EG, 43 EG und 49 EG verstoßen, dass sie Schulgeldzahlungen für den Besuch von Schulen in anderen Mitgliedstaaten generell von dem in § 10 Abs. 1 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 19. Oktober 2002 vorgesehenen Sonderausgabenabzug ausgeschlossen hat.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten.
Normenkette
EGV Art. 18, 39, 43, 49
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Bundesrepublik Deutschland |
Tatbestand
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats ‐ Art. 18 EG, 39 EG, 43 EG und 49 EG ‐ Einkommensteuerrecht ‐ Schulgeld ‐ Abzugsrecht nur für Schulgeldzahlungen an private inländische Einrichtungen“
In der Rechtssache C-318/05
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 226 EG, eingereicht am 17. August 2005,
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Gross und R. Lyal als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch M. Lumma und U. Forsthoff als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas (Berichterstatter) und K. Lenaerts, des Richters J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Schiemann, J. Makarczyk, G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič und J. Malenovský,
Generalanwältin: C. Stix-Hackl,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. Mai 2006,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 21. September 2006
folgendes
Urteil
1
Mit ihrer Klage beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 18 EG, 39 EG, 43 EG und 49 EG verstoßen hat, dass sie Schulgeldzahlungen für den Besuch von Schulen in anderen Mitgliedstaaten ausnahmslos von dem in § 10 Abs. 1 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vom 19. Oktober 2002 (BGBl. 2002 I S. 4210) (im Folgenden: EStG) vorgesehenen Sonderausgabenabzug ausgeschlossen hat.
Einschlägiges nationales Recht
2
Nach deutschem Recht sind Aufwendungen für den Besuch einer Privatschule durch die Kinderfreibeträge und durch das Kindergeld abgegolten. Soweit darüber hinaus ausbildungsbedingte Mehrkosten durch eine auswärtige Unterbringung entstehen, werden diese durch den Ausbildungsfreibetrag im Sinne des § 33a Abs. 2 EStG pauschal abgegolten. Dies gilt auch für die aufgrund des Besuchs einer ausländischen Schule anfallenden Mehraufwendungen.
3
Hinsichtlich des Abzugs von Schulgeld als Sonderausgaben bestimmt § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG:
„Sonderausgaben [die zum Abzug im Rahmen der Einkommensteuer berechtigen] sind die folgenden Aufwendungen, wenn sie weder Betriebsausgaben noch Werbungskosten sind:
1. …
9. 30 vom Hundert des Entgelts, das der Steuerpflichtige für ein Kind, für das er einen Kinderfreibetrag oder Kindergeld erhält, für den Besuch einer gemäß Artikel 7 Abs. 4 des Grundgesetzes staatlich genehmigten oder nach Landesrecht erlaubten Ersatzschule sowie einer nach Landesrecht anerkannten allgemein bildenden Ergänzungsschule entrichtet mit Ausnahme des Entgelts für Beherbergung, Betreuung und Verpflegung.“
4
Der in Bezug genommene Art. 7 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (im Folgenden: Grundgesetz) lautet:
„(4) Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird. Die Genehmigung ist zu versagen, wenn die wirtschaftliche und rechtliche Stellung der Lehrkräfte nicht genügend gesichert ist.“
Vorverfahren
5
Da die Kommission der Ansicht war, die Bundesrepublik Deutschland habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 18 EG, 39 EG, 43 EG und 49 EG verstoßen, dass sie Schulgeldzahlungen für den Besuch von Schulen in anderen Mitgliedstaaten ausnahmslos von dem in § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG vorgesehenen Sonderausgabenabzug ausgeschlossen habe, leitete sie das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226 Abs. 1 EG ein. Nachdem sie der Bundesrepublik Deutschland am 19. Juli 2002 Gelegenheit zur Äußerung gegeben hatte, forderte sie sie gemäß dieser Vorschrift mit einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 7. Januar 2004 auf, die erf...