Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Grundsatz der Gleichstellung in einem anderen Mitgliedstaat ergangener früherer Verurteilungen. Pflicht, diese Verurteilungen mit gleichwertigen Wirkungen zu versehen wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen. Nationale Vorschriften über die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe. Mehrere Straftaten. Festlegung einer Gesamtstrafe. Obergrenze von fünfzehn Jahren bei zeitigen Freiheitsstrafen. Ausnahme. Straftat, die begangen wurde, bevor die Verurteilungen im anderen Mitgliedstaat erfolgten oder vollstreckt wurden
Normenkette
Rahmenbeschluss 2008/675/JI Art. 3 Abs. 1, 5
Beteiligte
Tenor
1. Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren
ist dahin auszulegen, dass
ein Mitgliedstaat nicht sicherstellen muss, dass in einem Strafverfahren gegen eine Person deren frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat mit gleichwertigen Wirkungen versehen werden wie denen, die im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach den Vorschriften des betreffenden nationalen Rechts über die Gesamtstrafenbildung haben, wenn zum einen die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen wurde, bevor die früheren Verurteilungen erfolgten, und zum anderen eine im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts erfolgende Berücksichtigung der früheren Verurteilungen das mit dem genannten Verfahren befasste nationale Gericht daran hindern würde, gegen die betreffende Person eine vollstreckbare Strafe zu verhängen.
2. Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675
ist dahin auszulegen, dass
die Berücksichtigung früherer in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen im Sinne dieser Bestimmung vom nationalen Gericht nicht verlangt, den aus der fehlenden Möglichkeit der – für frühere inländische Verurteilungen vorgesehenen – nachträglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret darzulegen und zu begründen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2022, in dem Strafverfahren
MV,
Beteiligter:
Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von MV, vertreten durch Rechtsanwalt S. Akay,
- des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, vertreten durch C. Maslow und L. Otte als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Dezember 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABl. 2008, L 220, S. 32).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen einer von MV beim Bundesgerichtshof (Deutschland) eingelegten Revision gegen ein Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau (Deutschland), mit dem MV wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 1 bis 5, 8, 9 und 13 des Rahmenbeschlusses 2008/675 heißt es:
„(1) Die Europäische Union hat sich die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt. Hierzu müssen Informationen über in den Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen auch außerhalb des Urteilsmitgliedstaats zur Verhinderung neuer Straftaten und im Rahmen neuer Strafverfahren herangezogen werden können.
(2) Am 29. November 2000 hat der Rat [der Europäischen Union] entsprechend den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere das Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen angenommen; hierin wird Folgendes vorgesehen: ‚Annahme eines oder mehrerer Rechtsakte, in denen der Grundsatz verankert ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats die in den anderen Mitgliedstaaten ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen in Strafsachen heranziehen können muss, um die strafrechtliche Vergangenheit eines Täters bewerten, eine Rückfälligkeit berücksichtigen und die A...