Entscheidungsstichwort (Thema)
Möglichkeit der Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung, Angemessenheit von Rechtsbehelfsfristen, unrichtige Auslegung von Gemeinschaftsrecht durch ein nationales Gericht
Leitsatz (amtlich)
1. Im Rahmen eines Verfahrens vor einer Verwaltungsbehörde, das der Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung dient, die infolge eines Urteils eines letztinstanzlichen nationalen Gerichts bestandskräftig geworden ist, das, wie eine nach seinem Erlass ergangene Entscheidung des Gerichtshofs zeigt, auf einer unrichtigen Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht, verlangt das Gemeinschaftsrecht nicht, dass sich der Betroffene im Rahmen des gerichtlichen Rechtsbehelfs des innerstaatlichen Rechts, den er gegen die Verwaltungsentscheidung eingelegt hat, auf das Gemeinschaftsrecht berufen hat.
2. Die Möglichkeit, einen Antrag auf Überprüfung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung zu stellen, wird durch das Gemeinschaftsrecht in zeitlicher Hinsicht nicht beschränkt. Die Mitgliedstaaten können jedoch im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz angemessene Rechtsbehelfsfristen festlegen.
Normenkette
EGVtr Art. 10
Beteiligte
Hauptzollamt Hamburg-Jonas |
Verfahrensgang
Tatbestand
„Ausfuhr von Rindern ‐ Ausfuhrerstattungen ‐ Bestandskräftige Verwaltungsentscheidung ‐ Auslegung eines Urteils des Gerichtshofs ‐ Wirkung eines nach dieser Entscheidung im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteils des Gerichtshofs ‐ Überprüfung und Rücknahme ‐ Zeitliche Grenzen ‐ Rechtssicherheit ‐ Grundsatz der Zusammenarbeit ‐ Art. 10 EG“
In der Rechtssache C-2/06
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. November 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2006, in dem Verfahren
Willy Kempter KG
gegen
Hauptzollamt Hamburg-Jonas
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts und A. Tizzano (Berichterstatter), der Richter J. N. Cunha Rodrigues, A. Borg Barthet und M. Ileši&ccaron,; der Richterin P. Lindh und des Richters J.-C. Bonichot,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: J. Swedenborg, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Willy Kempter KG, vertreten durch Rechtsanwalt K. Makowe,
‐ der Tschechischen Republik, vertreten durch T. Bocek als Bevollmächtigten,
‐ der Republik Finnland, vertreten durch E. Bygglin als Bevollmächtigte,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch F. Erlbacher und T. van Rijn als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. April 2007
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des in Art. 10 EG verankerten Grundsatzes der Zusammenarbeit im Licht des Urteils vom 13. Januar 2004, Kühne & Heitz (C-453/00, Slg. 2004, I-837).
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Willy Kempter KG (im Folgenden: Kempter) und dem Hauptzollamt Hamburg-Jonas (im Folgenden: Hauptzollamt) über die Anwendung der §§ 48 und 51 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 25. Mai 1976 (BGBl. 1976 I S. 1253) (im Folgenden: VwVfG).
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3
Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 3665/87 (EWG) der Kommission vom 27. November 1987 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 351, S. 1, Berichtigung im ABl. 1988, L 337, S. 29) lautet:
„Unbeschadet der Artikel 5 und 16 ist die Zahlung der Ausfuhrerstattung von dem Nachweis abhängig, dass die Erzeugnisse, für welche die Ausfuhranmeldung angenommen wurde, spätestens sechzig Tage nach dieser Annahme das Zollgebiet der Gemeinschaft in unverändertem Zustand verlassen haben.“
4
Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 3665/87 bestimmt:
„Außer von der Voraussetzung, dass das Erzeugnis das Zollgebiet der Gemeinschaft verlassen hat, ist die Zahlung der einheitlichen oder unterschiedlichen Erstattung davon abhängig, dass das Erzeugnis innerhalb einer Frist von zwölf Monaten nach Annahme der Ausfuhranmeldung in ein Drittland eingeführt wurde, es sei denn, dass es im Laufe der Beförderung infolge höherer Gewalt untergegangen ist,
a) wenn ernste Zweifel am Erreichen der tatsächlichen Bestimmung des Erzeugnisses bestehen …
…“
Nationales Recht
5
Nach § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
6
§ 51 VwVfG betrifft das Wiederaufgreifen von Verfahren, die durch einen Verwaltungsakt abgeschlossen wurden, der unanfechtbar geworden ist. Nach § 51 Abs. 1 hat die betreffende Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwa...