Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Einwanderungspolitik. Recht auf Familienzusammenführung. Verweigerung der Verlängerung des Aufenthaltstitels des Zusammenführenden. Folgen. Verweigerung der Verlängerung des Aufenthaltstitels von Familienangehörigen. Von ihnen nicht zu vertretender Grund. Vorhandensein minderjähriger Kinder. Voraussetzungen für die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels. Ausdruck ‚besonders schwierige Umstände‘. Bedeutung. Individualisierte Prüfung. Anspruch auf rechtliches Gehör
Normenkette
Richtlinie 2003/86/EG Art. 16 Abs. 3, Art. 15 Abs. 3, Art. 17
Beteiligte
Subdelegación del Gobierno en Barcelona |
Tenor
1.Art. 15 Abs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung
ist dahin auszulegen, dass
er einer mitgliedstaatlichen Regelung nicht entgegensteht, in der nicht vorgesehen ist, dass die zuständige nationale Behörde, gestützt auf das Vorliegen „besonders schwierige[r] Umstände“ im Sinne dieser Bestimmung, Familienangehörigen eines Zusammenführenden einen eigenen Aufenthaltstitel gewähren muss, wenn sie ihren Aufenthaltstitel aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen verloren haben oder sich minderjährige Kinder unter ihnen befinden.
2.Art. 17 der Richtlinie 2003/86
ist dahin auszulegen, dass
er einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegensteht, die es der zuständigen nationalen Behörde gestattet, eine Entscheidung zu erlassen, mit der die Verlängerung des Aufenthaltstitels, der Familienangehörigen eines Zusammenführenden erteilt wurde, verweigert wird, ohne zuvor eine individualisierte Prüfung ihrer Situation und eine Anhörung vorgenommen zu haben. Betrifft diese Entscheidung ein minderjähriges Kind, müssen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen ergreifen, damit dieses Kind eine seinem Alter oder seiner Reife entsprechende echte und wirksame Möglichkeit hat, gehört zu werden.
Tatbestand
In der Rechtssache C-63/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Contencioso-Administrativo n.o5 de Barcelona (Verwaltungsgericht Nr. 5 Barcelona, Spanien) mit Entscheidung vom 9. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 6. Februar 2023, in dem Verfahren
Sagrario,
Joaquín,
Prudencio
gegen
Subdelegación del Gobierno en Barcelona
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter I. Jarukaitis und D. Gratsias,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: L. Carrasco Marco, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Januar 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von Frau Sagrario und ihren beiden minderjährigen Kindern, vertreten durch E. Leiva Vojkovic, Abogado,
- – der spanischen Regierung, vertreten durch I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigten,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Galindo Martín und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. März 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 3 und Art. 17 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) sowie von Art. 7, Art. 24, Art. 33 Abs. 1 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einer Mutter nebst ihren beiden minderjährigen Kindern, sämtlich Drittstaatsangehörige, und der Subdelegación del Gobierno en Barcelona (Unterdelegation der Regierung in Barcelona, Spanien) (im Folgenden: zuständige nationale Behörde) wegen der Verweigerung der Verlängerung ihres Aufenthaltstitels zur Familienzusammenführung.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2003/86
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 2, 4, 6 und 15 der Richtlinie 2003/86 heißt es:
„(2) Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] und der Charta … anerkannt wurden.
…
(4) Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der [Europäischen] Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt...