Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren. Übersetzung von ‚wesentlichen Unterlagen’. Begriff ‚wesentliche Unterlagen’- Nach einem vereinfachten, nicht kontradiktorischen Verfahren erlassener Strafbefehl, mit dem sein Adressat wegen einer minder schweren Straftat zu einer Geldstrafe verurteilt wird
Normenkette
Richtlinie 2010/64/EU Art. 3 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist dahin auszulegen, dass ein Rechtsakt wie ein im nationalen Recht vorgesehener Strafbefehl zur Sanktionierung von minder schweren Straftaten, der von einem Richter nach einem vereinfachten, nicht kontradiktorischen Verfahren erlassen wird, eine „wesentliche Unterlage” im Sinne des Abs. 1 dieses Artikels darstellt, von der verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des betreffenden Verfahrens nicht verstehen, gemäß den von dieser Bestimmung aufgestellten Formerfordernissen eine schriftliche Übersetzung erhalten müssen, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um so ein faires Verfahren zu gewährleisten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Aachen (Deutschland) mit Entscheidung vom 6. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Mai 2016, in dem Strafverfahren gegen
Frank Sleutjes,
Beteiligte:
Staatsanwaltschaft Aachen,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter), des Richters E. Levits, der Richterin M. Berger sowie des Richters F. Biltgen,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frank Sleutjes, vertreten durch Rechtsanwalt C. Peters,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Hellmann und T. Henze als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. Bulterman und M. de Ree als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Mai 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (ABl. 2010, L 280, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Frank Sleutjes wegen Unfallflucht.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 14, 17 und 30 der Richtlinie 2010/64 heißt es:
„(14) Das Recht von Personen, die die Verfahrenssprache des Gerichts nicht sprechen oder nicht verstehen, auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ergibt sich aus Artikel 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] in dessen Auslegung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Diese Richtlinie erleichtert die praktische Anwendung dieses Rechts. Zu diesem Zweck zielt diese Richtlinie darauf ab, das Recht von verdächtigen oder beschuldigten Personen auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren im Hinblick auf die Wahrung des Rechts dieser Personen auf ein faires Verfahren zu gewährleisten.
…
(17) Diese Richtlinie sollte gewährleisten, dass es unentgeltliche und angemessene sprachliche Unterstützung gibt, damit verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht sprechen oder verstehen, ihre Verteidigungsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können und ein faires Verfahren gewährleistet wird.
…
(30) Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens ist es erforderlich, dass wesentliche Unterlagen oder zumindest die maßgeblichen Passagen solcher Unterlagen für die verdächtigen oder beschuldigten Personen gemäß dieser Richtlinie übersetzt werden. Bestimmte Dokumente sollten immer als wesentliche Unterlagen in diesem Sinne gelten und sollten deshalb übersetzt werden, beispielsweise jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil. Die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten sollten von Amts wegen oder auf Antrag verdächtiger oder beschuldigter Personen oder ihres Rechtsbeistands entscheiden, welche weiteren Dokumente für die Gewährleistung eines fairen Verfahrens wesentlich sind und deshalb auch übersetzt werden sollten.”
Rz. 4
Art. 1 „Gegenstand und Anwendungsbereich”) dieser Richtlinie sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:
„(1) Diese Richtlinie regelt d...