Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Bei Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendendes nationales Recht. Rechtswahlklausel. Persönlicher Anwendungsbereich. Drittstaatsangehöriger. Verhältnis zu bestehenden internationalen Übereinkommen. Bilaterales Abkommen zwischen der Republik Polen und der Ukraine

 

Normenkette

Verordnung (EU) Nr. 650/2012 Art. 22, 75

 

Beteiligte

OP (Choix du droit d’un État tiers pour la succession)

OP

 

Tenor

1.Art. 22 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses

ist dahin auszulegen, dass

ein in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann.

2.Art. 75 der Verordnung Nr. 650/2012 in Verbindung mit Art. 22 dieser Verordnung

ist dahin auszulegen, dass

er dem nicht entgegensteht, dass ein in einem Mitgliedstaat der Union wohnhafter Drittstaatsangehöriger, wenn dieser Mitgliedstaat vor der Annahme der Verordnung mit dem Drittstaat ein bilaterales Abkommen geschlossen hat, das das auf Erbsachen anzuwendende Recht vorgibt und nicht ausdrücklich die Möglichkeit der Wahl eines anderen Rechts vorsieht, nicht für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Drittstaats wählen kann.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-21/22

[berichtigt mit Beschluss vom 9. Januar 2024] betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Opolu (Regionalgericht Opole, Polen) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Januar 2022, in dem Verfahren

OP,

Beteiligter:

Notariusz Justyna Gawlica,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Piçarra, M. Safjan, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        des Notariusz Justyna Gawlica, vertreten durch M. Margoński, Zastępca notarialny,
  • –        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
  • –        der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,
  • –        der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. L. Kalėda und W. Wils als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. März 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 22 und 75 der Verordnung (EU) Nr. 650/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Juli 2012 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Annahme und Vollstreckung öffentlicher Urkunden in Erbsachen sowie zur Einführung eines Europäischen Nachlasszeugnisses (ABl. 2012, L 201, S. 107).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OP, einer ukrainischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in Polen, wo sie Miteigentümerin einer Immobilie ist, und dem Vertreter des Notariusz Justyna Gawlica (Notarin Justyna Gawlica), die das Notariat von Krapkowice betreibt (im Folgenden: Notarvertreter), wegen seiner Weigerung, ein öffentliches Testament mit einer Klausel zu errichten, wonach für den Nachlass von OP ukrainisches Recht gilt.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 7, 37, 38, 57 und 59 der Verordnung Nr. 650/2012 heißt es:

„(7)      Die Hindernisse für den freien Verkehr von Personen, denen die Durchsetzung ihrer Rechte im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug derzeit noch Schwierigkeiten bereitet, sollten ausgeräumt werden, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu erleichtern. In einem europäischen Rechtsraum muss es den Bürgern möglich sein, ihren Nachlass im Voraus zu regeln. Die Rechte der Erben und Vermächtnisnehmer sowie der anderen Personen, die dem Erblasser nahestehen, und der Nachlassgläubiger müssen effektiv gewahrt werden.

(37)      Damit die Bürger die Vorteile des Binnenmarkts ohne Einbußen bei der Rechtssicherheit nutzen können, sollte die Verordnung ihnen im Voraus Klarheit über das in ihrem Fall anwendbare Erbstatut verschaffen. Es sollten harmonisierte Kollisionsnormen eingeführt werden, um einander widersprechende Ergebnisse zu vermeiden. Die allgemeine Kollisionsnorm sollte sicherstellen, dass der Erbfall einem im Voraus bestimmbaren Erbrecht unterliegt, zu dem eine enge Verbindung besteht. Aus Gründen der Rechtssicherheit und um eine Nachlassspaltung zu vermeiden, sollte der gesamte Nachlass, d. h. das gesamte zum Nac...

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