Entscheidungsstichwort (Thema)
Richtlinie 93/104/EG des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung. Nichtigkeitsklage. Sozialpolitik. Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer. Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung. Rechtsgrundlage. Artikel 118a des Vertrages. Grenzen. Festsetzung des Sonntags als wöchentlicher Ruhetag. Nichtigkeit des Artikels 5 Absatz 2 der Richtlinie. Handlungen der Organe. Entscheidung über die Rechtsgrundlage. Kriterien. Praxis eines Organs. Keine Bedeutung gegenüber den Regeln des Vertrages. EG-Vertrag. Artikel 235. Bedeutung. Gemeinschaftsrecht. Grundsätze. Verhältnismässigkeit. Keine Verletzung durch die Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung. Klagegründe. Befugnismißbrauch. Begriff. Richtlinie 93/104 des Rates. Rechtmässigkeit. Begründungspflicht. Umfang
Leitsatz (amtlich)
1. Artikel 118a des Vertrages ist die zutreffende Rechtsgrundlage für Maßnahmen der Gemeinschaft, deren wesentliches Ziel der Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer ist, selbst wenn diese Maßnahmen sich daneben auf die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken können. Er stellt nämlich insoweit, als es um diesen Schutz geht, gegenüber den Artikeln 100 und 100a des Vertrages, deren Vorliegen seinen Anwendungsbereich nicht einschränkt, eine Sonderregelung dar. Die dem Rat in Artikel 118a zum Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer übertragene Zuständigkeit ist weit auszulegen. Diese Zuständigkeit erfasst auch allgemeine und nicht nur Maßnahmen, die auf bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern anwendbar sind; Mindestvorschriften brauchen diese Maßnahmen nur insoweit zu sein, als die Mitgliedstaaten weitergehende Maßnahmen treffen können.
Aus diesen Gründen konnte die Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung mit Ausnahme des Artikels 5 Absatz 2, der den Sonntag als wöchentlichen Ruhetag festlegt und folglich für nichtig zu erklären ist, sowohl nach ihrem Inhalt wie nach ihrem Ziel auf der Grundlage des Artikels 118a erlassen werden.
2. Im Rahmen der Zuständigkeitsregelung der Gemeinschaft muß die Entscheidung über die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts auf objektiven, gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen. Zu diesen Umständen gehören insbesondere das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts.
Eine schlichte Praxis des Rates kann Regeln des Vertrages nicht abändern und folglich auch kein Präjudiz schaffen, das die Organe der Gemeinschaft bei der Bestimmung der zutreffenden Rechtsgrundlage eines zu erlassenden Rechtsakts binden würde.
3. Artikel 235 des Vertrages kommt als Rechtsgrundlage eines Rechtsakts nur in Betracht, wenn keine andere Bestimmung des Vertrages den Gemeinschaftsorganen die zum Erlaß dieses Rechtsakts erforderliche Befugnis verleiht.
4. Der Rat hat mit dem Erlaß der Richtlinie 93/104 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstossen.
Die beschränkte gerichtliche Kontrolle des weiten Entscheidungsspielraums, der dem Rat auf dem Gebiet des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zusteht, auf dem er sozialpolitische Entscheidungen zu treffen und komplexe Abwägungen zu tätigen hat, lässt weder erkennen, daß die Bestimmungen der Richtlinie mit Ausnahme des Artikels 5 Absatz 2 zur Erreichung des Ziels der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer nicht geeignet wären, noch, daß diese Maßnahmen, die weitgehend nachgiebiges Recht sind, über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgingen.
5. Der Befugnismißbrauch besteht im Erlaß eines Rechtsakts durch ein Gemeinschaftsorgan ausschließlich oder zumindest überwiegend zu anderen als den angegebenen Zielen oder mit dem Ziel, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen.
So verhält es sich bei der Richtlinie 93/104 des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung nicht, da nicht nachgewiesen ist, daß diese Richtlinie ausschließlich oder zumindest überwiegend zu einem anderen Zweck als dem Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer erlassen wurde, der in Artikel 118a des Vertrages, der Rechtsgrundlage, vorgesehen ist.
6. Die in Artikel 190 des Vertrages vorgeschriebene Begründung muß zwar die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den angefochtenen Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, daß die Betroffenen ihr die Gründe für die getroffene Maßnahme entnehmen können und der Gerichtshof seine Kontrolle ausüben kann; sie braucht jedoch nicht sämtliche tatsächlich oder rechtlich erheblichen Gesichtspunkte zu enthalten.
Hierbei ist eine besondere Begründung für jede der fachlichen Entscheidungen, die das Organ getroffen hat, dann nicht erforderlich, wenn sich dem angegriffenen Rechtsakt der vom Organ verfolgte Zweck in seinen wesentlichen Zuegen entnehmen lässt.
Normenkette
EGVtr Art. 100, 100a, 118a; Richtlinie 9...