Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsbürgerschaft. Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Verhalten, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Tatsächliche und gegenwärtige Gefahr. Begriff. Unionsbürger, der sich im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, in dem er eine Freiheitsstrafe verbüßt, die zur Ahndung wiederholter Straftaten des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen verhängt wurde
Normenkette
Richtlinie 2004/38/EG Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2
Beteiligte
Subdelegación del Gobierno en Álava |
Tenor
Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG ist dahin auszulegen, dass der Umstand, dass sich eine Person zum Zeitpunkt des Erlasses der Ausweisungsentscheidung ohne Aussicht auf baldige Entlassung in Haft befindet, es nicht ausschließt, dass ihr Verhalten gegebenenfalls eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats berührt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Superior de Justicia del País Vasco (Oberstes Gericht des Baskenlands, Spanien) mit Entscheidung vom 8. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 7. April 2016, in dem Verfahren
E
gegen
Subdelegación del Gobierno en Álava
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter M. Vilaras (Berichterstatter), J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der spanischen Regierung, vertreten durch V. Ester Casas als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch K. Stranz und T. Henze als Bevollmächtigte,
- der estnischen Regierung, vertreten durch K. Kraavi-Käerdi als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch G. Eberhard als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Crane als Bevollmächtigte im Beistand von B. Lask, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und I. Martínez del Peral als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, Berichtigung im ABl. 2004, L 229, S. 35).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen E und der Subdelegación del Gobierno en Álava (Unterdelegation der Regierung in Álava, Spanien) über deren Entscheidung, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit die Ausweisung von E aus dem Königreich Spanien mit einem Einreiseverbot für die Dauer von zehn Jahren zu verfügen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 27 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 bestimmt:
„(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Kapitels dürfen die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit beschränken. Diese Gründe dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.
(2) Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.
Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulä...