Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Geistiges Eigentum. Urheberrecht in der Informationsgesellschaft. Recht der öffentlichen Wiedergabe. Sogenannte „Privatkopieausnahme“. Anbieter eines ‚Internet Protocol Television‘ (IPTV)-Dienstes. Zugang zu geschützten Inhalten ohne Zustimmung der Rechtsinhaber. Online-Videorecorder. Zeitversetzter Abruf. Deduplizierungstechnik
Normenkette
Richtlinie 2001/29/EG Art. 3, 5 Abs. 2 Buchst. b
Beteiligte
Ocilion IPTV Technologies |
Ocilion IPTV Technologies GmbH |
Seven.One Entertainment Group GmbH |
Tenor
1.Art. 2 und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft
sind dahin auszulegen, dass
ein von einem Online-Fernsehübertragungsbetreiber kommerziellen Kunden angebotener Dienst, der es über eine Cloud-Hosting-Lösung oder mittels der vor Ort zur Verfügung gestellten erforderlichen Hard- und Software und jeweils auf Initiative seiner Endnutzer ermöglicht, Sendungen fortlaufend oder gezielt aufzunehmen, nicht unter die Ausnahme vom ausschließlichen Recht der Urheber und Sendeunternehmen, die Vervielfältigung geschützter Werke zu erlauben oder zu verbieten, fällt, wenn die von einem ersten Nutzer, der eine Sendung ausgewählt hat, erstellte Kopie vom Betreiber einer unbestimmten Zahl von Nutzern, die denselben Inhalt ansehen möchten, zur Verfügung gestellt wird.
2.Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29
ist dahin auszulegen, dass
es keine „öffentliche Wiedergabe“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt, wenn ein Online-Fernsehübertragungsbetreiber seinem kommerziellen Kunden die erforderliche Hard- und Software zur Verfügung stellt sowie technische Unterstützung leistet, was es dem kommerziellen Kunden ermöglicht, seinen eigenen Kunden zeitversetzt Zugang zu Fernsehsendungen über das Internet zu gewähren, wobei dies auch dann gilt, wenn der Online-Fernsehübertragungsbetreiber Kenntnis davon hat, dass sein Dienst Zugang zu geschützten Sendungsinhalten ohne Zustimmung ihrer Urheber ermöglicht.
Tatbestand
In der Rechtssache C-426/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 27. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Juli 2021, in dem Verfahren
Ocilion IPTV Technologies GmbH
gegen
Seven.One Entertainment Group GmbH,
Puls 4 TV GmbH & Co. KG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richter M. Ilešič und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. Juni 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Ocilion IPTV Technologies GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt P. Burgstaller,
- – der Seven.One Entertainment Group GmbH und der Puls 4 TV GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt M. Boesch,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Samnadda und G. von Rintelen als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (ABl. 2001, L 167, S. 10).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Ocilion IPTV Technologies GmbH (im Folgenden: Ocilion) auf der einen Seite und der Seven.One Entertainment Group GmbH und der Puls 4 TV GmbH und Co. KG (im Folgenden zusammen: Seven.One u. a.) auf der anderen Seite darüber, dass Ocilion ihren kommerziellen Kunden einen Internetfernsehdienst in einem geschlossenen Netz („Internet Protocol Television“ [IPTV]) zur Verfügung stellt, durch den zugunsten von Endnutzern der Inhalt von Fernsehprogrammen ausgestrahlt wird, an denen Seven.One u. a. die Rechte haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 4, 9, 10, 21, 23, 27, 31 und 44 der Richtlinie 2001/29 lauten:
„(4) Ein harmonisierter Rechtsrahmen zum Schutz des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte wird durch erhöhte Rechtssicherheit und durch die Wahrung eines hohen Schutzniveaus im Bereich des geistigen Eigentums substantielle Investitionen in Kreativität und Innovation einschließlich der Netzinfrastruktur fördern und somit zu Wachstum und erhöhter Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie beitragen, und zwar sowohl bei den Inhalten und der Informationstechnologie als auch allgemeiner in weiten Teilen der Industrie und des Kul...