Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Harmonisierung des Steuerrechts. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Nicht mehrwertsteuerpflichtige Umsätze. Zu Unrecht in Rechnung gestellte und entrichtete Mehrwertsteuer. Liquidation des Dienstleistungserbringers. Weigerung der Steuerverwaltung, dem Leistungsempfänger die rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer zu erstatten. Grundsätze der Effektivität, der Steuerneutralität und der Nichtdiskriminierung
Normenkette
EGRL 112/2006; EGRL 112/2006 Art. 183
Beteiligte
HUMDA Magyar Autó-Motorsport Fejlesztési Ügynökség Zrt |
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága |
Verfahrensgang
Fővárosi Törvényszék (Ungarn) (Beschluss vom 25.05.2021; ABl. EU 2021, Nr. C 357/13) |
Tenor
1. Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist im Licht der Grundsätze der Effektivität und der Neutralität der Mehrwertsteuer
dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, nicht unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, obwohl die Wiedererlangung des fraglichen Betrags vom Dienstleistungserbringer unmöglich oder übermäßig schwierig ist, weil über diesen ein Liquidationsverfahren eröffnet wurde, und obwohl diesen beiden Steuerpflichtigen weder Betrug noch Missbrauch vorgeworfen kann, so dass für den betreffenden Mitgliedstaat keine Gefahr eines Steuerausfalls besteht.
2. Art. 183 der Richtlinie 2006/112 ist im Licht des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer
dahin auszulegen, dass
in dem Fall, dass ein Steuerpflichtiger, dem ein anderer Steuerpflichtiger eine Dienstleistung erbracht hat, die Erstattung der Mehrwertsteuer, die dieser Dienstleistungserbringer ihm zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt hat, unmittelbar von der Steuerverwaltung verlangen kann, die Steuerverwaltung verpflichtet ist, Zinsen auf den fraglichen Betrag zu zahlen, wenn sie diese Erstattung nicht innerhalb angemessener Frist nach entsprechender Aufforderung vorgenommen hat. Die Modalitäten der Festsetzung von Zinsen auf diesen Betrag fallen in den Bereich der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, die durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt ist, wobei die nationalen Vorschriften – insbesondere über die Berechnung der gegebenenfalls geschuldeten Zinsen – aber nicht dazu führen dürfen, dass dem Steuerpflichtigen eine angemessene Entschädigung für die Einbußen vorenthalten wird, die durch die verspätete Erstattung dieses Betrags entstanden sind. Dem vorlegenden Gericht obliegt es, alles in seiner Zuständigkeit Liegende zu tun, um die volle Wirksamkeit von Art. 183 der Richtlinie 2006/112 durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts zu gewährleisten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 25. Mai 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Juni 2021, in dem Verfahren
HUMDA Magyar Autó-Motorsport Fejlesztési Ügynökség Zrt.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und J. Passer,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der HUMDA Magyar Autó-Motorsport Fejlesztési Ügynökség Zrt., vertreten durch Gy. Hajdu, Ügyvéd,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vlácil als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Talabér-Ritz und V. Uher als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der HUMDA Magyar Autó-Motorsport Fejlesztési Ügynökség Zrt. (im Folgenden: Humda) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Rechtsbehelfsdirektion) betreffend die ablehnende Entscheidung der Rechtsbehelfsdirektion über den Antrag von Humda, ihr die Mehrwertsteuer zu erstatten, die ihr irrtümlich für einen in Ungarn nicht mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz, der...