Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger. Rückkehrentscheidung gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen. Wohl des Kindes. Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats, sich vor Erlass einer Rückkehrentscheidung zu vergewissern, dass der Minderjährige einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben wird. Unterscheidung allein anhand des Kriteriums des Alters des Minderjährigen, um ein Aufenthaltsrecht zu gewähren. Rückkehrentscheidung ohne nachfolgende Abschiebungsmaßnahmen
Normenkette
Richtlinie 2008/115/EG Art. 5 Buchst. a, Art. 6 Abs. 1, 4, Art. 8 Abs. 1, Art. 10
Beteiligte
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid |
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid |
Tenor
1. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit ihrem Art. 5 Buchst. a und mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass der betreffende Mitgliedstaat vor Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des Minderjährigen vornehmen und dabei das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigen muss. In diesem Rahmen muss sich der Mitgliedstaat vergewissern, dass für den Minderjährigen eine geeignete Aufnahmemöglichkeit im Rückkehrstaat zur Verfügung steht.
2. Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit ihrem Art. 5 Buchst. a und im Licht von Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat bei unbegleiteten Minderjährigen nicht nach dem alleinigen Kriterium des Alters unterscheiden darf, wenn er prüft, ob im Rückführungsstaat eine geeignete Aufnahmemöglichkeit vorhanden ist.
3. Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Mitgliedstaat, nachdem er gegenüber einem unbegleiteten Minderjährigen eine Rückkehrentscheidung erlassen und sich gemäß Art. 10 Abs. 2 der Richtlinie vergewissert hat, dass er einem Mitglied seiner Familie, einem offiziellen Vormund oder einer geeigneten Aufnahmeeinrichtung im Rückkehrstaat übergeben wird, anschließend davon absieht, ihn abzuschieben, bis er das Alter von 18 Jahren erreicht.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag, zittingsplaats 's-Hertogenbosch (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Herzogenbusch, Niederlande) mit Entscheidung vom 12. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in dem Verfahren
TQ
gegen
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von TQ, vertreten durch J. A. Pieters, advocaat,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Van Lul und P. Cottin als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Juli 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 4, 21 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 5 Buchst. a, Art. 6 Abs. 1 und 4, Art. 8 Abs. 1 und Art. 10 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) sowie des Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen TQ, einem unbegleiteten drittstaatsangehörigen Minderjährigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) wegen der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung, mit der dieser Minderjährige angewiesen...