Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Gleichbehandlung. Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung. Unternehmensinterne Regelung, die den Arbeitnehmern verbietet, am Arbeitsplatz sichtbare politische, philosophische oder religiöse Zeichen zu tragen. Unmittelbare Diskriminierung. Fehlen. Mittelbare Diskriminierung. Verbot für eine Arbeitnehmerin, ein islamisches Kopftuch zu tragen
Normenkette
Richtlinie 2000/78/EG
Beteiligte
Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding |
Tenor
Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass das Verbot, ein islamisches Kopftuch zu tragen, das sich aus einer internen Regel eines privaten Unternehmens ergibt, die das sichtbare Tragen jedes politischen, philosophischen oder religiösen Zeichens am Arbeitsplatz verbietet, keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung im Sinne dieser Richtlinie darstellt.
Eine solche interne Regel eines privaten Unternehmens kann hingegen eine mittelbare Diskriminierung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 darstellen, wenn sich erweist, dass die dem Anschein nach neutrale Verpflichtung, die sie enthält, tatsächlich dazu führt, dass Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung in besonderer Weise benachteiligt werden, es sei denn, sie ist durch ein rechtmäßiges Ziel wie die Verfolgung einer Politik der politischen, philosophischen und religiösen Neutralität durch den Arbeitgeber im Verhältnis zu seinen Kunden sachlich gerechtfertigt, und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels sind angemessen und erforderlich; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien) mit Entscheidung vom 9. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 2015, in dem Verfahren
Samira Achbita,
Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding
gegen
G4S Secure Solutions NV
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič und L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin M. Berger, der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan, der Richter A. Rosas, A. Borg Barthet, J. Malenovský, E. Levits und F. Biltgen (Berichterstatter), der Richterin K. Jürimäe und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. März 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding, vertreten durch C. Bayart und I. Bosmans, advocaten,
- der G4S Secure Solutions NV, vertreten durch S. Raets und I. Verhelst, advocaten,
- der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Kraehling, S. Simmons und C. R. Brodie als Bevollmächtigte im Beistand von A. Bates, Barrister,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 31. Mai 2016
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Samira Achbita sowie dem Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding (Zentrum für Chancengleichheit und Bekämpfung des Rassismus, im Folgenden: Centrum) auf der einen Seite und der G4S Secure Solutions NV (im Folgenden: G4S), einem Unternehmen mit Sitz in Belgien, auf der anderen Seite wegen des von G4S ihren Arbeitnehmern erteilten Verbots, am Arbeitsplatz sichtbare Zeichen ihrer politischen, philosophischen oder religiösen Überzeugungen zu tragen oder jeglichen sich daraus ergebenden Ritus zum Ausdruck zu bringen.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2000/78
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1 und 4 der Richtlinie 2000/78 lauten:
„(1) Nach Artikel 6 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union beruht die Europäische Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam. Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der Europäischen ...