Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Sozialpolitik. Verbot der Diskriminierung wegen des Alters. Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Vorrückungsstichtag. Diskriminierende Regelung eines Mitgliedstaats, wonach bei der Gehaltsermittlung die Anrechnung von Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 18. Lebensjahrs ausgeschlossen ist. Aufhebung der dem Gleichbehandlungsgrundsatz zuwiderlaufenden Vorschriften
Normenkette
AEUV Art. 45; Richtlinie 2000/78/EG Art. 2, 6, 16; Richtlinie 2000/78/EG Art. Art. 21 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 45 AEUV sowie die Art. 2, 6 und 16 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht entgegenstehen, durch die zur Beseitigung einer Diskriminierung wegen des Alters, die in Anwendung einer nationalen Regelung entstanden ist, wonach bei der Einstufung von Arbeitnehmern eines Unternehmens in das Gehaltsschema nur die nach Vollendung des 18. Lebensjahrs erworbenen Dienstzeiten berücksichtigt werden, diese Altersgrenze rückwirkend und für alle diese Arbeitnehmer aufgehoben wird, wobei aber nur die Anrechnung der bei Unternehmen, die im selben Wirtschaftssektor tätig sind, erworbenen Erfahrung zulässig ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Innsbruck (Österreich) mit Entscheidung vom 2. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2016, in dem Verfahren
Georg Stollwitzer
gegen
ÖBB Personenverkehr AG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev (Berichterstatter), S. Rodin und E. Regan,
Generalanwalt: P. Mengozzi,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Stollwitzer, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Orgler und J. Pfurtscheller,
- der ÖBB Personenverkehr AG, vertreten durch Rechtsanwalt C. Wolf,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und G. Hesse als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. November 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV, Art. 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 2, 6 und 16 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Georg Stollwitzer und der ÖBB-Personenverkehr AG (im Folgenden: ÖBB) über die Zulässigkeit des vom österreichischen Gesetzgeber zur Beseitigung einer Altersdiskriminierung eingeführten Vergütungssystems.
Rechtlicher Rahmen
Richtlinie 2000/78
Rz. 3
Nach Art. 1 der Richtlinie 2000/78 ist ihr Zweck „die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf im Hinblick auf die Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung in den Mitgliedstaaten”.
Rz. 4
Art. 2 der Richtlinie sieht vor:
„(1) Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet ‚Gleichbehandlungsgrundsatz’, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe geben darf.
(2) Im Sinne des Absatzes 1
- liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
i) diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich …
…”
Rz. 5
Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. c gilt die Richtlinie im Rahmen der auf die Europäische Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, u. a. in Bezug auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen einschließlich ...