Entscheidungsstichwort (Thema)
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Richtlinie 96/71/EG. Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen. Unternehmen des Baugewerbes. Mindestlohn. Vergleich zwischen dem durch die Bestimmungen des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird, festgelegten Mindestlohn und dem von dem Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich gezahlten Lohn. Nichtberücksichtigung sämtlicher von dem Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat gezahlter Zulagen und Zuschläge als Bestandteile des Mindestlohns”
Beteiligte
Kommission der Europäischen Gemeinschaften |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 3 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen verstoßen, dass sie – abgesehen vom Bauzuschlag – die von Arbeitgebern mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten an ihre nach Deutschland entsandten Arbeitnehmer des Baugewerbes gezahlten Zulagen oder Zuschläge, die nicht das Verhältnis zwischen der Leistung des Arbeitnehmers und der von ihm erhaltenen Gegenleistung verändern, nicht als Bestandteile des Mindestlohns anerkennt.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG, eingereicht am 25. September 2002,
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Sack und H. Kreppel als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch W.-D. Plessing und A. Tiemann als Bevollmächtigte,
Beklagte,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter), K. Lenaerts, S. von Bahr und K. Schiemann,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer,
Kanzler: M.-F. Contet, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. April 2004,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften beantragt mit ihrer Klageschrift, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 49 EG und Artikel 3 der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) verstoßen hat, dass sie – abgesehen vom Bauzuschlag – sämtliche von Arbeitgebern mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten an ihre nach Deutschland entsandten Arbeitnehmer des Baugewerbes gezahlten Zulagen oder Zuschläge nicht als Bestandteile des Mindestlohns anerkennt und dadurch die von diesen Arbeitgebern tatsächlich an ihre entsandten Arbeitnehmer gezahlten Lohnbestandteile unberücksichtigt lässt.
2 Die Bundesrepublik Deutschland beantragt, die Klage abzuweisen und der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Nach der zwölften Begründungserwägung der Richtlinie 96/71 hindert das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran, ihre Gesetze oder die von den Sozialpartnern abgeschlossenen Tarifverträge auf sämtliche Personen anzuwenden, die – auch nur vorübergehend – in ihrem Hoheitsgebiet beschäftigt werden, selbst wenn ihr Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.
4 In Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 96/71 – Anwendungsbereich – heißt es:
„Diese Richtlinie gilt für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer … in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden.”
5 Artikel 3 der Richtlinie 96/71 – Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen – bestimmt in den Absätzen 1 und 7:
„(1) … Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,
- durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder
- durch für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge … im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen,
festgelegt sind:
…
c) Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme;
…
Zum Zweck dieser Richtlinie wird der in Unterabsatz 1 Buchstabe c) genannte Begriff der Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet...