Entscheidungsstichwort (Thema)
Asyl. Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist. Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Auffangklausel
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 4; Verordnung (EG) Nr. 343/2003 Art. 3 Abs. 1, Art. 2, 6-13
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
Wenn den Mitgliedstaaten nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern in dem ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, als zuständig bestimmten Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der betreffende Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist, ist der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat verpflichtet, den Asylbewerber nicht an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen und – vorbehaltlich der Wahrnehmung der Befugnis, den Antrag selbst zu prüfen – die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach einem dieser Kriterien oder andernfalls nach Art. 13 der Verordnung als zuständig bestimmt werden kann.
Hingegen hat in einer solchen Situation die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an den ursprünglich als zuständig bestimmten Mitgliedstaat als solche nicht zur Folge, dass der den zuständigen Mitgliedstaat bestimmende Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Asylantrag auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst zu prüfen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. Dezember 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Januar 2011, in dem Verfahren
Bundesrepublik Deutschland
gegen
Kaveh Puid
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen (Berichterstatter) und M. Safjan, der Richter J. Malenovský, E. Levits, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot und D. Šváby sowie der Richterinnen M. Berger und A. Prechal,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Januar 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigten,
- von Herrn Puid, vertreten durch Rechtsanwältin U. Schlung-Muntau,
- der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigten,
- von Irland, vertreten durch D. O'Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von D. Conlan Smyth, Barrister,
- der griechischen Regierung, vertreten durch A. Samoni-Rantou, M. Michelogiannaki, T. Papadopoulou, F. Dedousi und G. Papagianni als Bevollmächtigte,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. D'Ascia, avvocato dello Stato,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch C. Murrell als Bevollmächtigte,
- der Schweizer Regierung, vertreten durch O. Kjelsen als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. April 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1, im Folgenden: Verordnung).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), und Herrn Puid, einem iranischen Staatsangehörigen, wegen der Entscheidung des Bundesamts, den Asylantrag von Herrn Puid für unzulässig zu erklären und seine Abschiebung nach Griechenland anzuordnen.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
In Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung heißt es:
„(1) Die Mitgl...