Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Schutz personenbezogener Daten. Haftung und Recht auf Schadenersatz. Begriff, immaterieller Schaden‘. Personenbezogene Daten enthaltende Veröffentlichung der Tagesordnung einer Gemeinderatssitzung im Internet. Veröffentlichung ohne Einwilligung der betroffenen Personen. Antrag dieser Personen auf Ersatz des immateriellen Schadens
Normenkette
EUVO 679/2016; EUVO 679/2016 Art. 82
Beteiligte
Tenor
Art. 82 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Rechtsvorschrift oder-praxis entgegensteht, die für einen durch einen Verstoß gegen diese Verordnung verursachten immateriellen Schaden eine „Bagatellgrenze“ vorsieht. Die betroffene Person muss den Nachweis erbringen, dass die Folgen dieses Verstoßes, die sie erlitten zu haben behauptet, ursächlich für einen Schaden waren, der sich von der bloßen Verletzung der Bestimmungen dieser Verordnung unterscheidet.
Tatbestand
In der Rechtssache C-456/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landgericht Ravensburg (Deutschland) mit Beschluss vom 30. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2022, in dem Verfahren
VX,
AT
gegen
Gemeinde Ummendorf
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe sowie der Richter N. Piçarra, M. Safjan, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von AT und VX, vertreten durch Rechtsanwalt O. Leuze,
- – der Gemeinde Ummendorf, vertreten durch Rechtsanwalt A. Staudacher,
- – von Irland, vertreten durch M. Browne, A. Joyce und M. Tierney als Bevollmächtigte im Beistand von D. Fennelly, BL,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Bouchagiar, M. Heller und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 82 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) (ABl. 2016, L 119, S. 1, im Folgenden: DSGVO).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei natürlichen Personen, AT und VX, einerseits und der Gemeinde Ummendorf (Deutschland) andererseits wegen Zahlung von Schmerzensgeld nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO zur Wiedergutmachung des Schadens, der ihnen dadurch entstanden sein soll, dass ihre personenbezogenen Daten ohne ihre Einwilligung auf der Internetseite dieser Gemeinde veröffentlicht wurden.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Im 146. Erwägungsgrund Sätze 1, 3 und 6 der DSGVO heißt es:
„Der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter sollte Schäden, die einer Person aufgrund einer Verarbeitung entstehen, die mit dieser Verordnung nicht im Einklang steht, ersetzen. … Der Begriff des Schadens sollte im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs [der Europäischen Union] weit auf eine Art und Weise ausgelegt werden, die den Zielen dieser Verordnung in vollem Umfang entspricht. … Die betroffenen Personen sollten einen vollständigen und wirksamen Schadenersatz für den erlittenen Schaden erhalten. …“
Rz. 4
Art. 5 („Grundsätze für die Verarbeitung personenbezogener Daten“) Abs. 1 Buchst. a DSGVO bestimmt:
„Personenbezogene Daten müssen
a) auf rechtmäßige Weise, nach Treu und Glauben und in einer für die betroffene Person nachvollziehbaren Weise verarbeitet werden (‚Rechtmäßigkeit, Verarbeitung nach Treu und Glauben, Transparenz‘)“.
Rz. 5
Art. 82 („Haftung und Recht auf Schadenersatz“) Abs. 1 DSGVO sieht vor:
„Jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, hat Anspruch auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
Rz. 6
Am 19. Juni 2020 hatte die Gemeinde Ummendorf auf ihrer Internetseite ohne Einwilligung der Kläger des Ausgangsverfahrens die Tagesordnung einer Gemeinderatssitzung, in der mehrfach die Namen der Kläger genannt wurden, sowie ein am 10. März 2020 vom Verwaltungsgericht Sigmaringen (Deutschland) verkündetes Urteil veröffentlicht, in dessen Rubrum ebenfalls ihre Namen und Vornamen sowie ihre Anschrift genannt waren. Diese Unterlagen waren bis zum 22. Juni 2020 auf der Homepage dieser Gemeinde verfügbar.
Rz. 7
Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind der Auffassung, dass ...