Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendendes Recht. Von den Parteien gewähltes Recht. Individualarbeitsverträge. Arbeitnehmer, die ihre Arbeit in mehreren Mitgliedstaaten verrichten. Bestehen einer engeren Verbindung zu einem anderen Staat als demjenigen, in dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder in dem sich die Niederlassung befindet, die den Arbeitnehmer eingestellt hat. Begriff ‚Bestimmungen, von denen nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf’. Mindestlohn

 

Normenkette

Verordnung (EG) Nr. 593/2008 Art. 3, 8

 

Beteiligte

SC Gruber Logistics

DG

EH

Sindicatul Lucrătorilor din Transporturi, TD

SC Gruber Logistics SRL

SC Samidani Trans SRL

 

Tenor

1. Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) ist dahin auszulegen, dass, wenn das für den Individualarbeitsvertrag geltende Recht von den Vertragsparteien gewählt wurde und es sich von dem nach Art. 8 Abs. 2, 3 oder 4 anzuwendenden Recht unterscheidet, letzteres Recht unanwendbar ist, mit Ausnahme der „Bestimmungen …, von denen [nach letzterem Recht] nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf”, im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung, zu denen Mindestlohnvorschriften grundsätzlich gehören können.

2. Art. 8 der Verordnung Nr. 593/2008 ist dahin auszulegen, dass

  • die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum einen auch dann als frei in der Wahl des diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsbestimmungen aufgrund einer nationalen Vorschrift durch das nationale Arbeitsrecht ergänzt werden, sofern die fragliche nationale Vorschrift die Parteien nicht dazu verpflichtet, das nationale Recht als das auf den Vertrag anzuwendende Recht zu wählen, und
  • die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum anderen grundsätzlich auch dann als frei in der Wahl des auf diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsklausel über diese Wahl vom Arbeitgeber abgefasst wird und sich der Arbeitnehmer darauf beschränkt, sie zu akzeptieren.
 

Tatbestand

In den verbundenen Rechtssachen C-152/20 und C-218/20

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunalul Mureş (Landgericht Mureş, Rumänien) mit Entscheidungen vom 1. Oktober 2019 und 10. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 30. März 2020 und 27. Mai 2020, in den Verfahren

DG,

EH

gegen

SC Gruber Logistics SRL (C-152/20)

und

Sindicatul Lucrătorilor din Transporturi, TD

gegen

SC Samidani Trans SRL (C-218/20)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte,
  • der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch M. Wilderspin und M. Carpus Carcea, dann durch Letztere, als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. April 2021

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 3 und 8 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6, im Folgenden: Rom-I-Verordnung).

Rz. 2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen rumänischen Lastkraftwagenfahrern und ihren Arbeitgebern, Handelsgesellschaften mit Sitz in Rumänien, über die Höhe ihres Lohns.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In den Erwägungsgründen 11, 23 und 35 der Rom-I-Verordnung heißt es:

„(11) Die freie Rechtswahl der Parteien sollte einer der Ecksteine des Systems der Kollisionsnormen im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse sein.

(23) Bei Verträgen, bei denen die eine Partei als schwächer angesehen wird, sollte die schwächere Partei durch Kollisionsnormen geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeinen Regeln.

(35) Den Arbeitnehmern sollte nicht der Schutz entzogen werden, der ihnen durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nicht oder nur zu ihrem Vorteil durch Vereinbarung abgewichen werden darf.”

Rz. 4

Art. 3 dieser Verordnung bestimmt:

„(1) Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben. Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen.

(2) Die Parteien können jederzeit vereinbaren, dass der ...

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