Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit. Unionsbürgerschaft. Leistungen bei Krankheit. Begriff. Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate. Voraussetzung, über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz zu verfügen. Gleichbehandlung. Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ohne wirtschaftliche Tätigkeit, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält- Weigerung des Aufnahmemitgliedstaats, diese Person in sein öffentliches Krankenversicherungssystem aufzunehmen
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, Art. 4, 11 Abs. 3 Buchst. e; Richtlinie 2004/38/EG Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, Art. 24
Beteiligte
Tenor
1. Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass staatlich finanzierte Leistungen der medizinischen Versorgung, die ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit Personen gewährt werden, die zu den in den nationalen Rechtsvorschriften definierten Empfängern gehören, „Leistungen bei Krankheit” im Sinne dieser Bestimmung sind und somit in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen.
2. Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die wirtschaftlich nicht aktive Unionsbürger, die in ihrer Eigenschaft als Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats unterliegen und ihr Recht, sich im Hoheitsgebiet dieses Staates aufzuhalten, gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie ausüben, von dem Recht ausschließen, dem öffentlichen Krankenversicherungssystem des Aufnahmemitgliedstaats beizutreten, um von diesem Staat finanzierte Leistungen der medizinischen Versorgung in Anspruch zu nehmen.
Art. 4 und Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 988/2009 geänderten Fassung sowie Art. 7 Abs. 1 Buchst. b und Art. 24 der Richtlinie 2004/38 sind dahin auszulegen, dass sie es demgegenüber nicht verwehren, dass der Beitritt solcher Unionsbürger zu diesem System nicht unentgeltlich ist, um zu verhindern, dass diese Unionsbürger die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats über Gebühr in Anspruch nehmen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākā tiesa (Senāts) (Oberster Gerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 9. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juli 2019, in dem Verfahren
A,
Beteiligte:
Latvijas Republikas Veselības ministrija,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten N. Piçarra und N. Wahl, der Richter E. Juhász, M. Safjan, D. Šváby, S. Rodin, F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter C. Lycourgos und P. G. Xuereb,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. September 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von A, vertreten durch L. Liepa, advokāts,
- des Latvijas Republikas Veselības ministrija, vertreten zunächst durch I. Viņkele und R. Osis, sodann durch R. Osis,
- der lettischen Regierung, vertreten zunächst durch V. Soņeca, V. Kalniņa und K. Pommere, sodann durch K. Pommere als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin, E. Montaguti und I. Rubene als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Februar 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18, Art. 20 Abs. 1 und Art. 21 AEUV, von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a, Art. 4 und Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. ...